09.05.2005 Artikelansicht
Ausschnitt Zeitungsausschnitt
Drucken Drucken

 

Das furchtbare Los
der Ostdeutschen

Kühne über Flucht und Vertreibung

Von Matthias Meyer zur Heyde
Bielefeld (WB). Mit seinem Vortrag »Vor uns neuer Strand - in uns Heimatland« hat der Historiker Hans-Jörg Kühne ein neues Kapitel der Geschichtsschreibung aufgeschlagen - jedenfalls für Bielefeld.

Sichtlich bewegt, geradezu erschüttert, verfolgten vor allem ältere Bürger am Samstag in der Altstädter Nicolaikirche die Ausführungen des Wissenschaftlers und Buchautors zum lange nur mit spitzen Fingern angefassten Thema Flucht und Vertreibung. Am Ende dankten ihm die Zuhörer für die vorurteilsfreie Behandlung des Leidens der deutschen Zivilbevölkerung und appellierten an die Kriegsgeneration, der Jugend von den Schrecken zu erzählen: Schweigen mache neue Großverbrechen erst möglich, lautete der Tenor.
Kühne, dessen Vortrag auf einem Sinnspruch an einem Haus an der Straße Auf dem langen Kampe fußte, stieg mit der ebendort aufgestellten Skulptur »Irrfahrt 1945« in die Thematik ein. Karlheinz Rhode-Jüchterns Werk zeigt ein nach Westen fahrendes Boot mit einer Familie; der Vater blickt wehmütig zurück, die Mutter entschlossen, das Kind gar neugierig nach vorn. Anhand von sechs aufwühlenden Einzelschicksalen sowie mit Hilfe geradezu grausamer Fotos gelang Kühne eine aufrüttelnde Skizze jener Zeit der Greuel.
Schreckens(w)ort Nemmersdorf: »Das Martyrium begann im Herbst 1944, als die Rote Armee in Ostpreußen eindrang«, erklärt Kühne, der ohne falsche Scheu von Massenvergewaltigungen und Hekatomben von Hingemetzelten, Ertrunkenen, Verhungerten, Erfrorenen spricht. Überfüllte Eisenbahnzüge, verstopfte Straßen, meterhoch der Schnee - es bedurfte gar nicht der Hetze eines Ilja Ehrenburg, der die »zügellose sowjetische Soldateska« anfeuerte: »Schlagt die Deutschen tot, wo ihr sie trefft! Es darf keine Gnade, keine Nachsicht geben!«
Keineswegs verschweigt Kühne die Grausamkeiten der Deutschen - die jedoch niemals als Rechtfertigung für die Untaten der Sowjets gelten dürften. Die »Vergewaltigungsorgien« (Kühne) der Russen hätten bis 1949 gedauert, als die DDR gegründet wurde.
Ob Ostpreuße oder Pommer, Schlesier oder Sudetendeutscher - der Furor der Sieger traf unterschiedslos alle Deutschen. Kühne zeigte Bilder von hakenkreuzgezeichneten Vertriebenen in Prag und Leichen in zusammengeschossenen Trecks. Er moniert den Unwillen der Westdeutschen, die »Polacken« genannten Flüchtlinge aus dem eigenen Land aufzunehmen. Aber er würdigt die Neuankömmlinge auch als arbeitsame Kräfte beim Wiederaufbau, der eben nicht zuletzt dank ebenjener Menschen gelang, die man im Nachkriegsdeutschland jahrzehntelang ihrer Biographie zu berauben suchte, indem man ihre Leiden beschwieg.
Pfarrer Armin Piepenbrink-Rademacher, der den Historiker im Rahmen der Stadtkirchenarbeit zum Vortrag ins Gotteshaus gebeten hatte, sah sich bestätigt: »Die Kirche ist ein Raum, in dem Schwerem Worte verliehen werden kann. Wir brauchen keinen Bundespräsidenten, um Sprachregelungen zu finden - wir lernen aus Veranstaltungen wie dieser und finden unsere eigenen Worte.«

Artikel vom 09.05.2005