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Frieden als Gabe und Aufgabe

Großer Zuspruch zu Gedenkgottesdienst und Podiumsgespräch

Von Matthias Meyer zur Heyde und Hans-Werner Büscher (Foto)
Bielefeld (WB). Mit einem zentralen Gottesdienst hat die Stadt gestern in der Altstädter Nicolaikirche an das Kriegsende vor 60 Jahren erinnert. Anschließend stellten Bielefelder Historiker im benachbarten TAM die neuesten Forschungen zu diesem Thema vor.

»Heute darf das menschliches Leid, gleichgültig auf wessen Seite die Opfer sich befanden, gleichberechtigt nebeneinander stehen«, sagte Pfarrer Armin Piepenbrink-Rademacher. »Der Schmerz der deutschen Zivilbevölkerung wurde unter jahrzehntelangem Schweigen begraben - aber nur das erinnernde Gespräch hilft künftiges Leiden verhindern.« Niemand habe das Recht, den Menschen ihre Lebensgeschichte zu rauben. »Schöpfen wir aus Gottes Geist die Kraft, die Vergangenheit, unser Schicksal zu ertragen«, appellierte der Geistliche an die Gemeinde der Gläubigen in der gut besuchten Nicolaikirche.
Den Gottesdienst gestalteten auch Oberbürgermeister Eberhard David, Superintendentin Regine Burg und Brunhilde Wiedemann, Vorsitzende der Kreisvereinigung ostdeutscher Landsmannschaften. »Die Auseinandersetzung mit Gegenwart und Vergangenheit muss weitergehen, wenn Gedenken nicht im Ritual erstarren soll«, sagte David. Bielefeld stelle sich dieser Verantwortung seit langem. »Der Blick zurück zeigt uns auch, wie wertvoll sechs Jahrzehnte des Friedens sind.«
»Frieden ist nicht nur ein Gottesgeschenk, sondern auch eine Aufgabe für die Zukunft«, erklärte Regine Burg. Die Superintendentin würdigte kirchliche Leistungen bei der Bewältigung dieser Arbeit und rief die Gläubigen zum Einsatz für Gerechtigkeit weltweit auf. »Im Geiste der Ökumene wollen wir Christen den innerkirchlichen Dialog führen, aber auch den Islam in die Gespräche einbeziehen.«
Der Pfarrer befragte Brunhilde Wiedemann nach ihren Gefühlen zum Gedenktag. »Auch wenn wir hier eine neue Heimat gefunden haben, so ist der 60. Jahrestag des Kriegsendes doch für uns kein Grund zum Feiern«, entgegnete die BDV-Vorsitzende. Christlicher Glaube helfe die Last des grausamen Schicksals zu tragen. »Der Jugend müssen wir von der Vergangenheit erzählen, um ihr die Sicherung des Friedens auch in Zukunft zu ermöglichen.
l »Urbizid« - diesen brandneuen Begriff des »Städtemordes«, den die Öffentlichkeit künftig häufiger hören wird, führte Hans-Walter Schmuhl in die Diskussion ein: »Die historische Wissenschaft widmet sich jetzt verstärkt der Stadtgeschichte und fokussiert die Stadt im Krieg«, erklärte der an der Universität lehrende Privatdozent zum Auftakt des Podiumsgespräches, das die Geschichtsfakultät auf Einladung des Bielefelder Theaters im TAM veranstaltete. Die Wissenschaft hat die quälende »Aufarbeitung« der NS-Zeit zugunsten neuer Forschungsschwerpunkte in den Hintergrund gerückt.
Mit zahllosen Zeitzeugen spricht derzeit der Historiker Hans-Jörg Kühne, dessen Bücher (»Zwischen Krieg und Frieden. Bielefeld 1945« und »Der Tag, an dem Paderborn unterging. 27. März 1945«) auf großes Interesse stoßen. Kühne skizzierte den Einmarsch der US-Truppen am Teuto und stellte die psychologisch hochinteressante Frage nach der »seelischen Verfasstheit« der Bielefelder: »Ein doppelter Verrat: Die NS-Führung flüchtet, und die Bürger führen die Amerikaner sofort zu den Orten, an denen sich die NS-Bonzen mutmaßlich aufhalten.«
»Völlige Erschöpfung« vermutet Professor Reinhard Vogelsang als Grund für die Indifferenz der Bevölkerung gegenüber ihren braunen Peinigern. Der langjährige Leiter des Stadtarchivs zeichnete ein präzises Bild der Nachkriegsjahre, in denen die Engländer um Stadtkommandant Douglas McOlive den Wiederaufbau eher behinderten als förderten: »Sie verzettelten sich, weil sich die Alltagsprobleme nicht mit ihren großen Plänen zur Deckung bringen ließen.« Der deutschen Verwaltung »gelang zwar die Etablierung demokratischer Strukturen, doch die Aufarbeitung des Nationalsozialismus' unterblieb.«
»Die Kirche hat das Kriegsende als Befreiung empfunden«, versicherte Professor Bernd Hey. Der Leiter des Landeskirchenarchivs führte das Publikum durch die Geschichte der Ev. Kirche Westfalens, beschrieb ihre Loslösung von Preußen nach 1945 (»ein Staatsstreich!«) und bedauerte die Rückkehr zu älteren Organisationsstrukturen, die die Ideen der Bekennenden Kirche kaum aufnahm. Hey verwies zudem auf ganz neue Erkenntnisse: »Die Verankerung kirchlicher Rechte in der bundesdeutschen Verfassung ist letztlich Präses Karl Koch zu danken.«
Dr. Martin Münzel, der über deutsche - gerade auch jüdische - Unternehmer forscht, ist sich sicher, dass 1945 große Chancen bot: »Nach der Zerstörung begann die Produktion mit konkurrenzfähigen Maschinen neu.« Die Unternehmer seien oft problemlos entnazifiziert worden, so dass die ÝStunde NullÜ weniger einen Bruch markiere, sondern lediglich einen Punkt auf einer kontinuierlich fortlaufenden Linie.
Die Doktorandin Katrin Stoll untersuchte anhand des Bielefelder Bialystok-Prozesses der 60er Jahre, wie die Justiz die NS-Zeit »bewältigt« hat. Das Verfahren am Landgericht, schwierig, weil fast ohne Aktenmaterial (»ein Richter ermittelte eigenhändig!«), habe gezeigt, dass der Judenmord nicht als Kollateralschaden des Weltkriegs zu interpretieren sei. »Die Juristen mussten sich das Unvorstellbare vorstellen können, zeigten aber auch die Grenzen des Strafrechts auf, denn systembedingt können längst nicht alle Verbrechen geahndet werden.«
Fazit: Historisierung ohne vergessendes Verdrängen. »Die Realität passt sich leider sehr oft nicht in den Theorierahmen ein, den der Sozialwissenschaftler vorgibt«, bemerkte Kühne. Die Angleichung von Fakten und veröffentlichter Meinung beim brisanten Thema »Deutschland, der Krieg und seine Folgen« scheint am Gedenktag des Jahres 2005 bereits auf einem guten Weg zu sein.

Artikel vom 09.05.2005