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Politische Stimmungsmache

Je näher die
Wahl, desto
feiner der Staub


Von Andreas Schnadwinkel
So seltsam kam es einem gar nicht vor, als schon Anfang der 90er Jahre einige Fußgänger und Fahrradfahrer in London mit einer Art Atemschutz durch die von Autos und Doppeldecker-Bussen verstopften Straßen wuselten. Man wollte sich gegen Abgase schützen, wie sie in einer Weltstadt unvermeidlich sind.
Irgendwie schien die weiße, über Mund und Nase gespannte Kappe sinnvoll zu sein. Wer einmal eine Städtetour in eine Millionen-Metropole wie New York, Istanbul, Sao Paulo oder eben London unternommen hat, der wird festgestellt haben, dass sich im Tagesverlauf ein Kopfdruck einstellen kann und man sich alle halbe Stunde die Hände und das Gesicht waschen möchte. Vor diesem Hintergrund und angesichts der Tatsache, dass Menschen seit je her auf verschmutzte Luft reagieren, scheint die aktuelle Feinstaub-Diskussion mal wieder eine medial aufgeheizte und womöglich gesteuerte Hysterie zu sein.
Kurz nach Ostern und damit pünktlich vor der Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen an diesem Sonntag setzte die Maschinerie ein und lieferte den Grünen ein Angst-Thema, mit dem Wahlkampf zu machen ist.
Wie heutzutage üblich versteckte sich die rot-grüne Bundesregierung hinter einer neuen EU-Richtlinie, die von den Ländern und Kommunen ja längst hätte beachtet und umgesetzt werden müssen. Jetzt kennt jeder den Begriff Feinstaub, und binnen weniger Tage hagelte es Studien zu dem Thema. Diesel-Motoren ohne Rußfilter seien Schuld, also die Kfz-Hersteller. Um acht Monate verkürze sich das Leben eines normalen Westeuropäers durch Feinstaub in der Atemluft, so eine unseriöse Pauschalschätzung. München und Düsseldorf hatten bereits nach drei Monaten die - zuvor gesenkten - Grenzwerte so häufig überschritten, wie sie es nur aufs Jahr gerechnet dürften. Fahrverbot für Dieselautos, City-Maut, Rußfilterpflicht - radikale Vorschläge gegen den Individualverkehr gab es genug.
Mittlerweile hat sich die Lage ein bisschen beruhigt. Da bis dato sogar die Nordseeinsel Norderney achtmal im Jahre 2005 über der Norm in Sachen Feinstaub lag, erkennt auch Otto Normalverbraucher, dass mit den immer weiter gesenkten Feinstaub-Grenzwerten etwas nicht zu stimmen scheint und verkehrslenkende Maßnahmen wenig erreichen.
Schnell sind die TV-Sender mit ihren Boulevardmagazinen am Start und messen Feinstaub an allen möglichen Stellen. Die Sensation, dass die Messwerte in Schlafzimmern und Büroetagen (Kopierer, Drucker) über der EU-Richtlinie liegen, sollte nicht die Hysterie steigern, sondern das Gegenteil bewirken: nämlich rational und vergleichend das sehr komplexe Problem von Fachleuten beurteilen zu lassen, um effektiv zu handeln.
Denn dass etwas passieren muss, steht außer Frage. Die Langzeitstudie mit 4800 Frauen im Ruhrgebiet gilt als seriös und belegt ziemlich klar, dass die erhöhte Feinstaubkonzentration in Ballungsräumen eine um bis zu fünf Jahre geringere Lebenserwartung mitverursacht.
Trotz all der Untersuchungen wirkt die Diskussion in Deutschland einmal mehr weltfremd. Gibt es in Paris ebenso panische Reaktionen wie bei uns? Oder sollte man vielleicht mal einen Straßenverkäufer in Mexiko-Stadt fragen, wie er sich gegen Feinstaub schützt? Für Bosch-Chef Franz Fehrenbach handelt es sich um den »zweifelhaften Luxus einer international einzigartigen Diskussion«.
Dieser Einwand ist nicht unberechtigt, zumal die Politik der rot-grünen Bundesregierung widersprüchlicher kaum sein könnte: Mit der Autobahn-Maut drängt man Lkw auf die Bundesstraßen und damit in die Nähe von Wohngebieten -Êwo die Belastung durch Dieselruß kräftig zunimmt.
Schon im Jahr 2010 zündet die EU die zweite Stufe ihrer Luftreinhalteverordnung - mit strengen Grenzwerten für Stickstoffoxid in der Atemluft. Was heute beschlossen wird, ist dann nicht mehr ausreichend.
Bis dahin ist die Rechnung ganz simpel: Je näher die Wahl, desto feiner der Staub.

Artikel vom 20.05.2005