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Die Treppe zur Hans-Ehrenberg-Schule in früheren Tagen. Sie ist auch Thomas Steinfeld gegangen, der dort 1973 sein Abitur machte.

»Aus der Mode gekommener Pepitahut«

Gedanken des früheren Hans-Ehrenberg-Schülers Thomas Steinfeld zu »seiner« Sennestadt

Von Paul Siegfried Schulz
Sennestadt (WB). »Es ist angenehm durch eine Stadt zu gehen, in der die Wege für die Fußgänger durch kleine Wälder führen und von den Straßen für die Automobile getrennt sind, durch eine lockere und kleinteilige Bebauung, in der sich Bungalows und vierstöckige Blocks, Reihenhäuser und ein Dutzend weit auseinander liegender Hochhäuser abwechseln.«

Die Rede ist hier von der Sennestadt, die im Juni mit einer Festwoche ihr 50-jähriges Jubiläum feiert. Und der das geschrieben hat, lebte als junger Mensch 14 Jahre lang in Sennestadt, »baute« 1973 sein Abitur an der Hans-Ehrenberg-Schule und leistete eineinhalb Jahre lang seinen »Ersatzdienst«, wie es damals hieß, in Eckardtsheim ab. Sein Name: Thomas Steinfeld. Sein derzeitiger Beruf: Literaturchef der renommierten »Süddeutschen Zeitung« (SZ) in München.
Im Jahr 2003 brachte er als Herausgeber das Buch »Deutsche Landschaften« auf den Markt. Ein Buch, in dem prominente Autoren deutsche Landschaften aus ihrem Blickwinkel darstellen. So unter anderem Monika Maron, Georg Klein, Ingo Schulze, Felicitas Hoppe, Martin Mosebach, Martin Walser und Ludwig Harig.
Auch Thomas Steinfeld verfasste seinen Beitrag - über Sennestadt. »Pepitahut mit Anspruch auf Besonnung« ist sein Beitrag überschrieben. An ihn erinnert nun anlässlich des anstehenden Jubiläums Eberhard Brünger, früherer Musiklehrer an der Hans-Ehrenberg-Schule. »Lesenswert und passend zum Jubiläum«, befindet er.
Der Pepitahut steht bei Steinfeld als Synonym für Sennestadt damals und heute. »Sich in Sennestadt umzusehen, kostet keinen Eintritt. Und doch betritt man hier ein Freilichtmuseum der Moderne, wie sie in den späten fünfziger und frühen sechziger Jahren auszusehen schienen«, schreibt Steinfeld
Und weiter: »Willkürliche Formen wurden im Wohnungsbau der Sennestadt vermiedenâ erklärte der Hamburger Architekt Hans B. Reichow im Jahr 1968 seinen Plan, vielmehr seine Gestaltung auf den neuen Lebensrhythmus, die vermehrte Freizeit und das wohnliche Gesicht ausgerichtet.«
Und dieses Gesicht vergleicht Steinfeld mit einem Pepitahut: »Dieses Gesicht aber wirkt heute wie ein Pepitahut, so frisch und noch lange nicht verschlissen, aber auch so alt und ganz und gar aus der Mode geraten.«
Der Beobachter von draußen sieht auch die neuere Entwicklung: »Und doch ist diesen architektonischen Formen das Leben abhanden gekommen, an das sie sich anschmiegen sollten. Die Wohnungen der ganzen Stadt sind zum Beispiel so ausgerichtet, dass die Sonne stets zur rechten Zeit hineinscheint, in die Kinderzimmer wie in die Küchen oder in die Wohnstuben, wobei die rechte Zeit sich am Lebensrhythmus des öffentlichen Dienstes zu orientieren scheint.«
»Das mag im Tagesablauf noch funktionieren,« schreibt er weiter. »Aber die Lebensalter haben sich nicht an die Erwartungen der Planer gehalten. Man hatte auf die Alten sehr viel Rücksicht genommen und noch mehr auf die Kinder, und die Stadt ist so entworfen, dass ein freundliches Miteinander der Enkel und der Großeltern gewährleistet sein sollte. Nun besichtigt man die einstige Planung von Kinderfreundlichkeit, aber in der Stadt begegnet man vor allem alten Menschen.« Aus Sennestadt, der Stadt der jungen Familien, sind die Kinder fortgezogen. »Darunter auch ich, und nur die Eltern sind geblieben, schreibt Steinfeld weiter.«
Und deckt auf, was seiner Überzeugung nach schon damals ersichtlich wurde: »Dass Sennestadt eines Tages zu den untergegangenen Utopien gehören würde, war früh abzusehen - eigentlich schon in den frühen sechziger Jahren, als der wunderbare und tatsächlich funktionierende Plan des Architektens, den Verkehr sich selbst regeln zu lassen, ohne die Einrichtung von Ampeln und Vorfahrtsstraßen, nur dem simplen Prinzip von "rechts vor links" gehorchend, aufgegeben werden musste, weil die Selbstregelung im Widerspruch zum Verkehrsrecht der Bundesrepublik stand.«
Und weiter: »Für alle erkennbar wurde das nahende Ende der Utopie im Jahr 1973, als Sennestadt seine gerade erworbenen Stadtrechte verlor und im Zuge der Gebietsreform der Stadt Bielefeld zugeschlagen wurde. Bielefeld aber war ärmer als der kleine Nachbar, denn in der großen Stadt gab es Viertel ohne Schwimmbad, ohne neue Grundschule, ohne gepflegten Grüngürtel. Sennestadt wurde egalisiert. . . Und wie zum Hohn über den Traum von einer neuen lebendigen Stadt wurde zur selben Zeit an der Autobahn ein Großmarkt errichtet, und damit begann das Ende des Herrenausstatters Lükewille und des Haushaltswarenhändlers Jahnke am Stadtring.«
Sennestadt, schreibt Steinfeld abschließend, »altert nicht in Scham, Verfall und Schande, sondern gewaschen und gescheitelt, mit intaktem Gebiss und bei vollem Bewusstsein. Die alte Bundesrepublik: hier lässt sich ihr Ende besichtigen. Es ist undramatisch. So wenig, wie die Entstehung der Sennestadt eine auftrumpfende Utopie war, so wenig spektakulär ist der allmähliche Untergang. Wer hier wohnt, darf eine Figur sein bis zuletzt.«

Artikel vom 28.04.2005