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»Das Gute muss jeder für sich herausfinden«

Ein WESTFALEN-BLATT-Gespräch mit Joseph Kardinal Ratzinger 1999 in Paderborn

Von Reinhard Brockmann
Paderborn (WB). Ratzinger als Papst? Unmöglich! Solange Johannes Paul II. lebte, hat sein wichtigster Kardinal jeden Gedanken an eine Nachfolge so höflich wie listig stets verworfen.
Ein Interview mit Joseph Kardinal Ratzinger, 1999 von Reinhard Brockmann in Paderborn geführt, hält bemerkenswerte Ausblicke bereit.
»Das wird der Menschheit sicher erspart bleiben«, sagte Joseph Kardinal Ratzinger in einem Interview mit dieser Zeitung, das am 1. Januar 1999 aus Anlass des Paderborner Bistumsjubiläums geführt wurde. Das Gespräch mit Blick auf 1200 Jahre Kirche in Paderborn hält aber neben einer - geschickt ausgelegten - falschen Fährte auch zahlreiche Hinweise auf Ratzinger Denken und künftiges Wirken als Papst bereit.
Auch wenn es die klassische Volkskirche in Deutschland, insbesondere in den neuen Bundesländern nicht mehr gebe, meinte der Kardinal damals, »möchte ich dennoch nicht die Elite-Kirche.« Die Kirche solle auch Menschen aufnehmen können, »die sich nicht voll mit ihr identifizierten, die nur ein Stück weit von ihr annehmen ohne ganz für sie eintreten zu wollen.«
Die Katholische Kirche in Deutschland sieht Ratzinger »in einer kritischen Situation für den Glauben, der sich in einer völlig veränderten Welt orientieren muss«. Mangelnder Kirchenbesuch und nachlassende Glaubensfähigkeit belasteten die Situation. Da aber der menschliche Glaube an Gott nach wie vor eine dynamische Kraft darstelle, stehe die Kirche auch nicht vor dem Zwang, sich zwischen Tradition oder Moderne entscheiden zu müssen. Zu unterscheiden sei zwischen dem, was wirklich wesentlich und bleibend ist, sowie dem, was historisch bedingt vielleicht schön war, aber auch vergehen müsse.
In Sachen Ökumene werde es eher in kleinen Schritten weitergehen, sagte Ratzinger 1999 voraus. Wer jedoch auf die zurückliegenden 30 Jahre blicke, der sehe, dass schon sehr große Fortschritte gemacht worden seien. Er spreche oft mit älteren Menschen, die mehr als er »die Entwicklung an der Front erlebt haben und mir sagen, wie viel sich geändert hat und dass die Ökumene wirklich ein umwälzendes Ereignis ist.«
Auf die Frage, ob 2000 Jahre Kirchengeschichte nicht vielleicht doch zu stark auf allem lasteten, um sich noch den tagesaktuellen Dingen stellen zu können, meinte Ratzinger, das sei nicht direkt aus der Tradition zu beantworten. Die Zeit bewege sich heute sehr viel schneller als ehedem. Die zunehmende Entwicklungsbeschleunigung der Geschichte sei mit Händen zu greifen und stelle eine große Herausforderung für die Weltkirche dar. »Aber gerade in dieser Entwicklung ist es wichtig, das Bleibende und das Tragende zu finden.« Die Kirche habe keine Rezepte für Tagesaktualität bekannte der seinerzeitige Vorsitzende der mächtigen Glaubenskongregation. »Da muss der Mensch seinen Verstand schon selbst anstrengen. Die Kirche kann Maßstäbe geben, die ihm helfen das sittlich Verantwortbare, das menschlich Gute herauszufinden«. Die Anstrengung der Vernunft und ihres Einsatzes bleibe dem Menschen aber nicht erspart, zeichnet Ratzinger ein klares Bild von der Freiheit und Verantwortung des Christenmenschen.
Dem Autor ist aus dem in Paderborn geführten Gespräch noch am stärkstem Ratzingers mitnehmende Zuversicht und glasklare Gewissheit in Erinnerung. Auch damals, ganz der Arbeiter im Weinberg, meinte er nicht seine Person, sondern die Kirche Jesu Christi als er voraussagte: »Wir stehen in einem geschichtlichen Strom der weitergeht und der noch viel versichert.«

Artikel vom 21.04.2005