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Idealtypus eines Staatsoberhauptes

Richard von Weizsäcker wird am Freitag 85 Jahre alt

Von Norbert Klaschka
Berlin (dpa). Angeblich soll sich der Literaturkritiker Marcel Reich-Ranicki für seinen 85. Geburtstag am 2. Juni zwei Gratulanten gewünscht haben: Thomas Gottschalk und Richard von Weizsäcker. Ob das wirklich so kommt, dafür will sich der frühere Bundespräsident nicht verbürgen.

Aber die hübsche Geschichte freut ihn gleichwohl, vollendet er doch wenige Wochen davor, am 15. April, auch sein 85. Lebensjahr. Inzwischen ist es schon elf Jahre her, dass er aus dem Amt schied. Aber für viele Bundesbürger verkörpert Weizsäcker immer noch den Idealtypus eines Staatsoberhauptes.
Am 15. April 1920 in Stuttgart als viertes Kind des Diplomaten Ernst von Weizsäcker geboren, macht er nach dem Krieg Karriere in Wirtschaft und Politik. Die düstere Seite der deutschen Geschichte, mit der er sich immer wieder auseinander setzt, prägt auch die Familiengeschichte. Der junge Jurastudent assistiert 1948/49 dem Rechtsanwalt Hellmut Becker, der bei den Kriegsverbrecherprozessen in Nürnberg seinen Vater verteidigt. 1954 tritt Weizsäcker in die CDU ein, kommt 1969 in den Bundestag. 1981 geht er von Bonn in das von Affären gebeutelte West-Berlin und wird Regierender Bürgermeister. 1984 wird er der sechste Bundespräsident.
Den Aufstieg Weizsäckers hat ein Mann tatkräftig gefördert: Helmut Kohl. Doch ein folgsamer Parteigänger ist der Unabhängigkeit schätzende Weizsäcker nie. In den 70er Jahren wirbt er gegen die Parteilinie für die von der sozialliberalen Koalition ausgehandelten Ostverträge. Als Bundespräsident, da ohnehin der Überparteilichkeit verpflichtet, macht Weizsäcker aus seiner kritischen Distanz zum Parteienbetrieb keinen Hehl. Im »Spiegel« prangert er das »Machtsystem« an.
Ein Bundespräsident wirkt durch das Wort. Weizsäcker ist ein brillanter Redner. Den wichtigsten Markstein setzt er gleich zu Beginn seiner zehnjährigen Amtszeit mit seiner Rede zum 40. Jahrestag des Kriegsendes 1985. Der 8. Mai sei ein Tag der Befreiung. »Er hat uns alle befreit von dem menschenverachtenden System der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft.« Gegen alle Relativierer gewandt, hält er fest: »Der Völkermord an den Juden jedoch ist beispiellos in der Geschichte.«
In Weizsäckers Amtszeit fällt die Wiedervereinigung, wofür er tiefe Dankbarkeit empfindet. Die ökonomische Bewältigung der Einheit bewertet er freilich kritisch. »Unter den Folgen leiden wir bis heute. Kein anderes Land in der EU hat eine vergleichbare Last zu tragen, wie die 85 Milliarden Euro Transfer pro Jahr.«

Artikel vom 13.04.2005