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Irgendeinen dreisten Zufall schlossen sie sehr bald völlig aus. Trotz verschiedener Unwägbarkeiten kreisten am Ende alle ihre Überlegungen einzig und allein um die Person Angelos. Auch wenn er nur ein Werkzeug für jemand anderen gewesen sein sollte, der sich seiner bediente und ihn nach getaner Arbeit ohne Skrupel fallen lassen würde, war ohne Angelos Wissen und seine Initiative das gesamte Komplott nicht denkbar. Keine der möglichen Überlegungen kam an dieser Tatsache vorbei.
Sein Verhalten war insbesondere Livia gegenüber unverzeihlich - aber was machte das jetzt schon aus. Das Schlimme daran war nur: Die Gegenwart wirft ihre Schatten auch auf die Vergangenheit und lässt nicht das Gute, sondern nur noch das Böse aufscheinen. Zurück bleiben Wut, Verbitterung und Enttäuschung É
Sie waren sich einig, nichts zu riskieren, was sie selbst in den Verdacht bringen konnte, in die Machenschaften Angelos verstrickt zu sein. Umgekehrt konnte der Gang zur Polizei und in Folge die Offenlegung aller bisherigen Vorgänge bewirken, dass das Original von Velázquez sofort beschlagnahmt würde. Schließlich war es ja in Italien entdeckt worden, bevor es von Angelo nach Zürich ins Zollfreilager gebracht worden war.
Dessen ungeachtet war sich Duncan sicher, dass der Dieb seine Kopie für das Originalgemälde von Velázquez halten würde. Er stellte mit Bitterkeit, wenn auch nicht ohne eine klammheimliche Genugtuung fest, dass das vielleicht sogar die Rettung vor weiteren Nachstellungen war, zumindest bis zur genaueren Untersuchung durch einen wirklichen Experten. Umgekehrt wäre nach einer offiziellen Verlautbarung in der Presse die Jagd auf das Original erneut eröffnet worden. Und es war nicht auszudenken, welche Winkelzüge und Repressalien Angelo noch im Schilde führen mochte.
Was war der Hintergrund des Diebstahls? Von welchen Motiven wurde Angelo getrieben? Wer steckte mit ihm unter einer Decke? Mit Sicherheit sollte das Gemälde verkauft werden und ebenso sicher zu einem Höchstpreis. Aber an wen? Und wie sollte es außer Landes gebracht werden? Dafür waren die Zollpapiere wichtig und die Besitzerklärungen, die sie bei der Bank hintergelegt hatten. Was für ein Glück, dass diese nicht in Livias Schreibtisch gelegen hatten, als die Einbrecher in der Wohnung waren!
Duncan wollte trotz allen Für und Widers seine Kopie des Velázquez zurück. Zu viel Herzblut hing daran, zu viel Hingabe und zu viele schöne Erinnerungen an seine Liebe zu Livia. Vielleicht ließ sich die einzige Person doch noch zur Rede stellen, die nach ihrer Überzeugung alle Fäden in der Hand hielt: Angelo!
Sie waren sich einig: Ein Versuch sollte wenigstens gemacht werden. In der unmittelbaren Konfrontation hatte Angelo bisher immer noch Zugeständnisse gemacht. Vielleicht gab er nach, wenn er erfuhr, dass das gestohlene Bild eine Kopie war, und er einsehen musste, dass er diese nicht gefahrlos weitergeben konnte. Dies war eine hauchdünne Chance. Aber diese sollte unbedingt wahrgenommen werden, wenn auch mit größter Vorsicht.
In den frühen Abendstunden des gleichen Tages machten sich Livia und Duncan auf den Weg. Zuvor hatte Livia zur Sicherheit noch die Visitenkarte von Tino Carracciolo, Detektiv bei der Mailänder Security Leonardo, aus ihren Unterlagen gefischt. Auf ihr fand sie die Notiz, nach der sie gesucht hatte. Duncan überprüfte die Adresse auf dem weißen Karton. Via Solferino 24 / II. Stock, Appartement rechts. Weißlackierte Tür. Ein Sicherheitsschloss. Kein Namensschild. Livia steckte den nachgemachten Wohnungsschlüssel ein, obwohl sie sich fast sicher war, das Angelo seit ihrem überraschenden Besuch im Juni letzten Jahres das Türschloss ausgetauscht hatte.
Duncan hatte einen Wagen angemietet. Er studierte den Stadtplan.
»Die Wohnung befindet sich in der Nähe des Cimetero Monumentale«, sagte Livia.
»Wie passend!«, erwiderte Duncan trocken.
»Vielleicht wohnt er gar nicht mehr dort«, meinte sie.
»Lass uns einfach hinfahren. Wir werden das schon rausbekommen.«
»Ach was, ich werde raufgehen und einfach an der Tür klingeln.« Während sie sprach, überkam sie Niedergeschlagenheit und Überdruss an der nicht enden wollenden Geschichte ihrer missbrauchten Gefühle und falschen Hoffnungen. Sie sehnte sich danach, dieser auf immer zu entrinnen.
»Engel, lass uns erst mal hinfahren É«, wiederholte Duncan geduldig.
In der beginnenden Dämmerung parkte er den Wagen unweit des Hauseingangs.
Erst einmal wollten sie im Auto bleiben. Den Innenspiegel des Wagens drehte Duncan so, dass der Hauseingang darin beobachtet werden konnte. Nach einer guten Stunde des Wartens fuhr aus der Gegenrichtung ein weiterer Wagen vor, der in eine Parklücke, genau ihnen gegenüber, hineinstieß. Obwohl genügend Platz vorhanden war, ragte die Frontpartie in die Fahrbahn. Zwei Männer saßen auf der Rückbank die sich zwar chauffieren liessen, aber keine Anstalten machten, ihr Gefährt zu verlassen. Instinktiv rutschten Duncan und Livia in ihrem Sitz etwas tiefer. Waren sie zunächst entschlossen gewesen zu überprüfen, ob die Wohnung noch von Angelo angemietet war, so verlegten sie sich angesichts des parkenden Wagens lieber aufs Abwarten.
»In welchen Autos saßen die Männer, die uns beobachteten?« flüsterte Duncan, als hätte er Angst, jemand könnte ihn hören.
»Roter Fiat, dunkelgrüner Alfa und schwarzer Opel,« gab Livia ebenso leise zurück.
»Passt nicht É«
Nach einer Ewigkeit des untätigen Wartens sah Livia auf die Uhr: Es war kurz vor neun. Ihre Augen suchten das zweite Stockwerk ab. Genau konnte sie die Fenster nicht mehr zuordnen. Doch sie meinte, dass dort, wo sie Angelos Wohnung vermutete, Licht brannte.
Nach einer weiteren halben Stunde quälenden Wartens blickte Livia wieder zu den Fenstern hinauf. Die waren jetzt dunkel. Livia stieß Duncan an: »Ich glaube, ich sehe einfach nach.«
»Okay. Geh du hinüber auf die andere Seite, ich vertrete mir etwas die Beine und beobachte dabei die Männer drüben im Wagen. Ich komme dann gleich nach«, schlug Duncan vor.
Vorsichtig öffnete Livia die Wagentür und duckte sich hinaus. Im Schutz der anderen Autos, die am Bordstein parkten, schlich sie sich ein Stück die Straße hinauf, um abseits von dem verdächtigen Wagen auf die anderen Straßenseite zu gelangen, als sich dort plötzlich ebenfalls die Türen öffnete. Zwei Männer, gekleidet in dunklen Anzügen, entstiegen dem Fond. Livia wandte spontan ihr Gesicht ab. Ihr Herz begann zu rasen. Einen der Männer hatte sie sofort erkannt. Commissario Metelli! Er hatte sie umgekehrt zum Glück nicht wahrgenommen.
In zügigem Schritt gingen die Männer in das Haus. Als Livia daraufhin zu Duncan hinübersah, konnte sie gerade noch erkennen, dass er sie aufgeregt zu sich herwinkte.
Kaum stand sie atemlos neben ihm, als sich die Ereignisse zu überschlagen begannen. Aus dem Hauseingang vernahmen sie jetzt einige kurze Kommandos und eine lauter werdende Stimme, die üble Beschimpfungen von sich gab.
Livia umklammerte Duncans Arm. »Das ist seine Stimme. Angelo! Sie holen ihn.«
Im gleichen Augenblick stürmten zwei weitere Männer heran. Sie zerrten Angelo vom Gehsteig herunter in eine Parklücke. Er wehrte sich nicht mehr. Einer der Männer winkte. Auf sein Zeichen hin rollte ein Einsatzwagen mit aufgeblendeten Scheinwerfern heran. Angelo wurde auf den Rücksitz bugsiert, flankiert von seinen Häschern. Der Motor heulte auf. Der Wagen schoss davon. Commissario Metelli und sein Begleiter stiegen in ihr wartendes Dienstfahrzeug, und wenige Augenblicke später war der Spuk vorbei.
»Komm, lass uns von hier verschwinden!«, sagte Duncan völlig verunsichert.
»Wir sehen nach!«, kam es eiskalt zurück.
»Meinst du, er hat das Bild in seiner Wohnung versteckt?«
»Vielleicht, vielleicht auch nicht. Wenn nicht, dann ist nicht ganz auszuschließen, dass wir Hinweise finden«.
Duncan zögerte noch und folgte Livia nur langsam in das Treppenhaus. Livia kam es vor, als laufe der gleiche Film ab wie vor gut einem halben Jahr.
Sie ignorierte den altertümlichen Fahrstuhl und entschied sich wie damals für die Treppe. Sie erinnerte sich noch an die hölzerne Wendeltreppe mit einem offenen Auge im Zentrum, das einen freien Blick von unten wie nach oben durch das gesamte Treppenhaus gestattete. Die Geländerstäbe mit ihrer reichen Verzierung zeugten von vergangener Handwerkskunst, wogegen der Handlauf ihr noch abgewetzter vorkam als beim letzten Mal. Auch die Antrittstufe knarzte wie damals äußerst verräterisch. Nur zuckten diesmal keine grellen Blitze durch das Oberlicht, tanzten keine Schatten gespensterhaft an den Wänden entlang und durchdrang kein Donnergrollen die Mauern.
»Zweiter Stock, rechtes Appartement É«, flüsterte Duncan atemlos, als er Livia auf dem letzten Treppenabsatz schwungvoll einholte, wobei er immer zwei Stufen auf einmal genommen hatte. Als sie beide vor der weißlackierten Tür standen, nahm Livia wie schon im letzten Jahr unerschrocken den Schlüssel aus ihrer Handtasche und beeilte sich, die Tür damit zu öffnen.
Diesmal empfand sie keine Beklemmung, sondern Erleichterung, als das Schloss zurückschnappte. Ohne zu zögern, öffnete sie die Tür, bugsierte Duncan mit einem Schubs hinein und zog sie sofort hinter sich zu.
Der Teppichboden verschluckte jeden Tritt. Im fahlen Licht, das durch die Glastür fiel, stellte die Orientierung für Livia diesmal kein Problem dar. (wird fortgesetzt)

Artikel vom 09.05.2005