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Mit dem alten
Schifferklaviervor der Kanone

Was ein altes (Kriegs-)Foto erzählt

Von Matthias Meyer zur Heyde und Bernhard Pierel (Fotos)
Bielefeld (WB). »Donnerwetter - das bin ja ich!« Als der Fabrikant Reinhard Eickelmann vor drei Wochen die Samstagsausgabe des WESTFALEN-BLATTS aufschlug, staunte er nicht schlecht, als ihm von der Lokalseite 5 der Oberrealschüler Reinhard Eickelmann entgegenblickte -Ê als Flakhelfer.

»Meine Vierling« steht unter dem Foto, das im späten Frühjahr 1944 aufgenommen wurde und eine Flugabwehrkanone mit vier Rohren zeigt, unter deren Mündung der damals 17-jährige Reinhard Eickelmann ein flottes Lied auf seinem Akkordeon intoniert. Der heute 78-jährige Chef eines mittelständischen Unternehmens, das Polierwerkzeuge herstellt, rätselte: »Mir war völlig schleierhaft, wie mein Bild in die Zeitung kommen konnte.« Seit dem 19. März nämlich benutzt das WESTFALEN-BLATT die Aufnahme als Vignette, als wiedererkennbares Zeichen für die Serie über das Kriegsende vor 60 Jahren.
Ein Besuch bei dem agilen Fabrikanten, einem Gentleman der alten Schule, klärte den Sachverhalt nur bedingt. Soviel ist klar: Wir verwenden eine Aufnahme aus dem Stadtarchiv, Bielefelds erste Adresse, sofern es um lokale (und regionale) historische Quellen geht. Doch offensichtlich existieren mehrere Abzüge von dem Foto. »Jetzt wüsste ich natürlich gerne, wer sein Exemplar ans Stadtarchiv gab«, sagt Eickelmann.
Der Clou: Die Quetschkommode, eine »Goldea« aus Thüringen, pflegt der Musikliebhaber bis auf den heutigen Tag. »Mein Vater hat sie mir 1941 geschenkt, und bei meinem Klassenkameraden Hans-Erich Stellbrink habe ich gelernt, sie zu spielen.« Und mit der Zeiss »Ikonta«, mit der er vor 61 Jahren fotografiert wurde, hat Eickelmann noch bis vor wenigen Jahren seine Urlaubsfotos geschossen.
Ein wenig melancholisch wird Reinhard Eickelmann, wenn er 60 Jahre zurückdenkt. »Wir gingen aufs Helmholtz, das damals eine Oberrealschule war, und wurden am 15. Februar 1943 als Luftwaffenhelfer eingezogen.« Die Lehrer mussten nun mit dem Fahrrad in die kasernenartigen Unterkünfte fahren, um mit den abenteuerlustigen Jungs Vokabeln und Mathe zu bimsen. »Dann gab's Luftalarm, aber die armen Pauker durften weder in unseren Baracken bleiben, noch konnten sie über offenes Gelände nach Hause radeln.« Also: ab ins Gebüsch.
Drei Geschütze der leichten Flak (Kaliber: zwei Zentimeter) gehörten zur Einheit am Schildescher Viadukt, wo das Foto entstand; Eickelmann war Richtkanonier. Munition war im Überfluss vorhanden, aber die alliierten Bomber flogen meist zu hoch. »Einmal jedoch haben wir eine ÝFlying FortressÜ vom Himmel geholt«, einen bereits beschädigten viermotorigen US-Bomber.
Die Eisenbahnzüge mussten bei Meyer zu Eissen halten, aber sie stoppten meist 100 Meter vorher: »Wir hatten knusprige Kommissbrote, die Lokführer hatten dicke Kohlestücke, richtige Kaventsmänner, die sie den Hang hinunterpoltern ließen.«
Aber die Zeiten wurden rauher, und Reinhard Eickelmann wurde an der Front eingesetzt, in Holland. Da hob Hitlers letztes Aufgebot in wochenlanger Plackerei Panzergräben aus, die die monströsen Schaufelfahrzeuge der Amerikaner binnen Minuten wieder planierten.
»Jede Nacht haben wir die V1 und V2 nach London fliegen sehen - wir glaubten an die Wunderwaffen.« Vergeblich. Am 29. September 1944 erwischte es den 17-Jährigen: Tiefflieger! »Ich war drei Tage bewusstlos, man hatte mich abgeschrieben.« Ein Bekannter überbrachte den völlig aufgelösten Eltern die »Todes«-Nachricht.
Aber Reinhard Eickelmann hatte sich noch nicht aufgegeben. »Beim Liegendtransport ins kieferchirurgische Lazarett nach Tübingen hielt mir eine Krankenschwester eine von ihr geschriebene Karte hin. Ich unterschrieb, und an meiner speziellen Form des ÝRÜ in ÝReinhardÜ erkannten meine Eltern, dass ich noch lebte.«
Am Tag nach seiner Entlassung wurde das Lazarett vollständig zerbombt. Eickelmann erwischte den letzten Zug zurück in die Heimat. Dort brauchte man noch immer Kanonenfutter, aber ein Oberstabsarzt aus Bethel, »dem ich noch heute dankbar bin«, stellte den kaum genesenen Jungen »uk« (unabkömmlich).
Dennoch war das Ende jener lebensgefährlichen Zeit noch nicht abzusehen. Eickelmanns Vater wusste, dass die Besatzer rigide Ausgangssperren verhängen würden, also wollte er die Geschwister des 18-Jährigen, Klaus (11) und Lore (7), aus der Kinderlandverschickung ins Elternhaus holen. »Da sind wir zu Ostern, ausgerechnet als die Amerikaner anrückten, ins Lippische geradelt, haben für meine Geschwister zwei Räder ÝrequiriertÜ - und dann ging's in voller Fahrt zurück.« Mitten durch die Panzerverbände. In Granat- und Gewehrfeuer. Bei Tieffliegern: ab in den Straßengraben. »Aber wir haben es überstanden.«
Die Waffen schweigen seither. Wie es das beziehungsreiche Foto mit Reinhard Eickelmann und seinem Akkordeon so wunderschön symbolisiert.

Artikel vom 12.04.2005