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Trotz Körperverletzung ist
Mediziner schuldunfähig

Im Wahn alter Dame das Gesicht zerkratzt

Bielefeld (uko). Obwohl der Bielefelder Mediziner François M. (57, Namen geändert) einer alten Dame mit den Fingernägeln das Gesicht zerkratzt hat, wurde der Mann am Donnerstag nicht vom Amtsgericht Bielefeld verurteilt. Grund: Der Gynäkologe leidet unter Wahnvorstellungen, ist damit nicht schuldfähig. Amtsrichterin Michaela Kaminski, die gestern einen Freispruch für M. verkündete, schränkte ein: »Das ist kein Freibrief für weitere Straftaten.«
Die Angehörigen des Opfers sind trotz korrekter gesetzlicher Vorschriften völlig unzufrieden mit dem Ausgang des Verfahrens. Folgendes war passiert: Am 5. August 2004 war der Postbote zu dem Haus Am Depenbrockshof gekommen, hatte jedoch außer Postwurfsendungen nichts hinterlassen. Tula V. (83) hatte diese Beilagen sofort in einem Kasten für Altpapier entsorgt, als Mitmieter Francois M. wutentbrannt aus seiner Wohnung stürzte. »Er schrie mich an, was mir einfalle«, erinnerte sich die Seniorin gestern vor dem Amtsgericht. Als Tula V. antwortete, ob Francois M. »verrückt« sei, reagierte der Mediziner gewalttätig. Seine Hand krümmte er wie eine Tigerkralle und zog der Frau seine Fingernägel quer durch das Gesicht. Tula V. erlitt blutende Wunden. Dabei schrie der wildgewordene Mitmieter noch »Du alte Hexe, du Schlampe«, und er lachte wie irre.
In der Hauptverhandlung hinterließ der Angeklagte auch gestern einen alles andere als vernünftigen Eindruck. Uneinsichtig, stets die Schuld bei anderen suchend und fahrig in seinen Unterlagen kramend verstieg sich Francois M. sogar zu rassistischen Beleidigungen gegenüber Anwesenden. M. sprach von »einer Unverschämtheit der deutschen Justiz«, sah seine »andere Hautfarbe« und die Tatsache, »dass ich ein Neger bin« als Gründe für die Strafverfolgung an.
Der Psychiater Dr. Michael Dankwart hingegen hatte zuvor als Gutachter die Probleme des Angeklagten auf den Punkt gebracht. M. hatte bis 1989 in einem Bielefelder Krankenhaus gearbeitet, nach massiven Streitigkeiten war das Arbeitsverhältnis beendet worden. Seitdem fühle sich der Mann, der aus Burkina Faso stammt, von »den Behörden verfolgt und schikaniert«. Im übrigen bekomme er angeblich »seit 1995 keine Post mehr«. Dankwart sah das als »Realitätsverlust« an.
Für den Gutachter steht nach dem Studium der Akten und dem Verhalten des Angeklagten in der Hauptverhandlung fest: »Es liegt eine paranoide Psychose aus dem endogenen Formenkreis vor.« Francois M. sei zur Tatzeit weder steuerungs- noch schuldfähig gewesen. Für Staatsanwältin Antje Leege und Richterin Kaminski blieb danach als juristische Konsequenz lediglich ein Freispruch. - Der Sohn des Opfers quittierte das Ende des Prozesses mit Bitterkeit und völligem Unverständnis. Seine Konsequenz auf den Spruch des Gynäkologen »Frau V. braucht vor mir keine Angst zu haben« war schon eine überaus vielsagende Absichtserklärung: » . . . das stimmt, weil ich künftig auf sie aufpassen werde.«

Artikel vom 01.04.2005