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»Wenn Neger Charlie pfiff,
kamen wir alle angerannt«

Hans Schumacher spricht über das Kriegsende in Senne

Bielefeld (WB). Im Schützenloch lagen - sehr zur Freude der halbwüchsigen Jungs - eine Panzerfaust und drei Eierhandgranaten. Vom Volkssturmmann Wilhelm Schumacher war nichts zu sehen. »Er hat die Waffen hingeschmissen und ist gleich wieder abgehauen«, sagt sein Sohn Hans schmunzelnd.

Das war am Ostersonntag, 1. April. Auf der Autobahn sah man 70 US-Panzer heranrasseln. Schumacher senior und seine Kameraden vom Volkssturm wussten natürlich, dass gegen die Übermacht nichts auszurichten war. Schumacher junior wiederum, pensionierter Lehrer des Brackweder Gymnasiums und Ortsheimatpfleger in Senne, war damals sieben Jahre alt und hatte das Gefühl, gerade das größte Abenteuer überhaupt zu erleben.
»Wir spielten in der Nachbarschaft, als die Amerikaner in der Pförtnerloge der Firma Windel erschienen und alle Anwesenden festnahmen. Auch meinen Vater, der eine auffällige Armbinde trug - nicht etwa der Partei, sondern der Feuerwehr. Knapp drei Stunden später aber lieferte ein Offizier ihn wieder zu Hause an der Blumenstraße [heute: Diskusweg] ab und entschuldigte sich.«
Ortschronist Wilhelm Spellmann schreibt: »Am Abend vor Ostern stieß die feindliche Panzerspitze bis zur Raststätte Nieder-Gassel vor. Durch den Volkssturm wurde hier ein feindlicher Panzer abgeschossen. Der Ortsgruppenleiter K[arl] Wirth und der Bataillonsführer, Fabrikant [Reinhard] Tweer und einige Volkssturmmänner fielen den Amerikanern in die Hände. Es gelang ihnen aber, in der Dunkelheit zu entkommen.«
Tags drauf beschossen sich die Gegner an einer Panzersperre an der Buschkampstraße [damals: Kreisstraße], wobei Gebäudeschäden auftraten, aber keine Toten zu beklagen waren. Dennoch »war die Bevölkerung in großer Aufregung, denn noch am gleichen Nachmittag und an den folgenden Tagen durchsuchten amerikanische Truppen die Häuser nach Waffen«, fährt Spellmann fort.
Der Chronist schneidet hier ein Thema an, das sich wie ein roter Faden durch alle Berichte zieht: Plünderung. »Dabei nahmen sie den Leuten Eier, Fleischvorräte, Uhren, Schmucksachen und vereinzelt auch Bargeld weg.« Schlimmer noch: Im Gefolge der GIs tauchten immer mehr freigelassene - oft bewaffnete! -Ê Zwangsarbeiter auf, die sich an der Zivilbevölkerung schadlos hielten. Es gab Tote . . .
Hören wir jedoch wieder Hans Schumacher.
»Beim Herannahen der Amerikaner packten plötzlich alle lokalen Parteibonzen ihre Rucksäcke und verschwanden im Wald. Mangels Verpflegung waren sie aber sehr schnell wieder zurück - und wurden von den Amerikanern fortgeschafft.« Ganz besonders spannend fanden die Senner die Vorgänge um Ortsgruppenleiter Wirth. »Er hatte Gift genommen und sich die Pulsadern aufgeschnitten, aber sein Todeskampf zog sich über Tage hin. Ständig parkte ein Jeep vor der Tür, weil man darauf baute, Wirth doch noch verhören zu können.« Die Sieger hofften vergebens.
Dann: die farbigen Soldaten. Niemand hatte je zuvor »Neger« (so werden sie in den Quellen durchgängig genannt) gesehen, die offensichtlich der kämpfenden - zumeist weißen - Truppe als Etappensoldaten folgten. »Die ÝNegerÜ wurden schnell unsere Freunde«, erzählt Schumacher. »Wir hatten spitzgekriegt, dass es von ihnen ÝTschewing GummÜ gab; außerdem hatte ich immer eine Dose in der Hosentasche, in der ich Zigarettenkippen sammelte.«
Sofort richteten die Amerikaner beim Lager der Ostarbeiter eine Feldküche ein. »Der Oberkoch hieß Charlie. Wir Kinder hockten im angrenzenden Wäldchen und warteten auf Charlies Pfiff: Dann waren die Soldaten satt, und wir durften die Kessel auskratzen. Mal gab es Schokoladenpudding, den wir gar nicht kannten, mal blieb ein Pfannkuchen übrig.«
Als Mitte Juni die Engländer kamen, versiegte diese Quelle - dafür gab es gelegentlich Schokolade. »Und während der täglichen Fahrten, bei denen sie aus unerfindlichen Gründen Benzinkanister vom Bahnhof nach Rheda transportierten, durften wir Kinder durch das in die Fahrerkabine geschnittene Loch hinausgucken, in dem wenige Wochen zuvor noch der MG-Schütze gelauert hatte.«
Gefährlich. Eine ungleich größere Gefahr aber ging von der Munition aus, die überall am Straßenrand gestapelt wurde. »Wir Kinder haben den Boden der Granaten aufgeschraubt und die Treibladungen herausgezogen. Begehrt war das Pulver in Stangenform - das haben wir angezündet, und dann zischten die Dinger wie Raketen in den Himmel.«
Schumacher grient: »Wenn die Amis in der Senne doch noch mal hätten kämpfen müssen, hätten sie verloren: Sie besaßen ja nur noch Blindgänger . . .«
Am Dienstag lesen Sie: Die Bevölkerung hungert - gerade nach Kriegsende fehlen Grundnahrungsmittel an allen Ecken und Enden. Da heißt es: betteln, hamstern, improvisieren.

Artikel vom 24.03.2005