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Leitartikel
Albert-Einstein-Jahr 2005

Und dann
der Welt die
Zunge zeigen


Von Bernhard Hertlein
Groß ist jedes Jahr die Auswahl an Gedenktagen und Jubiläen, die der historische Kalender anbietet. Es sieht so aus, als habe 2005 Albert Einstein die Nase vorn. Sein Todestag jährt sich zum 50. Mal. Vor 100 Jahren veröffentlichte er seine Spezielle Relativitätstheorie. Zahlreiche Festveranstaltungen sind aus diesen Anlässen weltweit und vor allem in Deutschland geplant, ergänzt durch Ausstellungen, Symposien, Vorträge, künstlerische »Events« . . .
Von fünf Jahren hat das amerikanische »Time Magazine« Albert Einstein zum »Mann des 20. Jahrhunderts« gewählt. Ausgerechnet einen Physiker. Warum?
Einsteins Erkenntnis, dass die Zeit keine objektive Größe, sondern vom Ort des Beobachters abhängig ist, hat die Sicht der Menschen von der sie umgebenden Welt verändert. Dies gilt besonders für die Allgemeine Relativitätstheorie, die - 1914/15 erstmals veröffentlicht - nach dem Ende des Ersten Weltkriegs und in den anschließenden zwanziger Jahren auch von den Publikumsmedien der damaligen Zeit vorgestellt und breit diskutiert wurde. Die Aussage »Alles ist relativ« hat der bisherigen physikalischen Weltsicht der Boden entzogen.
Und nicht nur der physikalischen: Der Satz »Alles ist relativ« entzieht jedwedem Alleinanspruch und Absolutismus, jedem Fanatismus und Fundamentalismus die Grundlage. Für alle, ob Individuum, Staat oder Religion, folgt daraus: Selbst wenn ich für mich glaube, die alleinige Wahrheit gefunden zu haben, soll und darf ich nicht davon ausgehen, dass sie auch für alle anderen zu gelten hat.
Diese philosophische Erkenntnis ist, wenn sie sich mal durchsetzt, tatsächlich so weitreichend, dass sie die Wahl zum »Mann des Jahrhunderts« begründen könnte. Sie erklärt aber noch nicht, warum Einstein heute fast wie ein Superstar gefeiert wird - mit seinem Konterfei auf Postern und T-Shirts allerorten und sogar einer Kaffeehaus-Kette, die ebenso wie eine Rock-Band seinen Namen trägt. Zum Idol wurde das Genie dadurch, dass er sich nicht in einen Elfenbeinturm zurückzog. Dass er die politische und gesellschaftliche Entwicklung wachen Auges beobachtete. Dass er vor Gefahren wie dem Nationalsozialismus rechtzeitig warnte. Dass er selbst die Konsequenz zog und sich 1933 in die USA absetzte. Dass er in anderem Zusammenhang eigene Fehler korrigierte. Dass er wie im Fall der Atombombe nicht alles für gut hielt, was die Wissenschaft erfand. Dass er hinter der wissenschaftlichen Ordnung des Alls noch Raum ließ für einen Gott.
Und dann ist da schließlich außerdem dieses Bild des schnauzbärtigen Genies, das den Fotografen die Zunge rausstreckt. Nicht verärgert oder gar böse, sondern liebevoll, verschmitzt und fast ein bisschen kumpelhaft. Millionenfach wurde es nachgedruckt -ĂŠvielleicht weil wir es selbst auch gern täten: Der Welt, dem Schicksal oder einfach nur dem ein oder anderen Mitmenschen ab und zu die Zunge zeigen. So wie Albert Einstein.

Artikel vom 07.02.2005