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Duncan sah immer noch einen Schimmer von Skepsis in ihren Augen. »Meine Arbeit war bisher immer erfolgreich, wenn ich von einem Bild überzeugt war«, fügte er hinzu.
Livia blieb stumm. Er fragte sich, wie er sie von sich überzeugen und ihr ein sicheres Gefühl ihm gegenüber vermitteln konnte. »Sehen Sie, durch den Blick auf die restaurierten Originale und durch die Publikationen der geschichtlichen Quellen haben wir heute Informations- und Vergleichsmöglichkeiten, von denen die Kunstforscher früherer Zeit nur träumen konnten. Wir haben heute naturwissenschaftliche und technische Untersuchungsmethoden, die uns klare Argumente an die Hand geben.«
»Sie geben sich wirklich Mühe, mir Mut zu machen. Ich glaube Ihnen persönlich auch, aber wissen Sie, was es heißt, die Experten zu überzeugen? Aufbauend auf den Vorleistungen meines Mannes habe ich mir inzwischen eine gigantische Arbeit gemacht. Zuerst habe ich aus der Literatur alle Museen und Privatpersonen herausgeholt, die Velázquez-Bilder besitzen. Danach habe ich Aufnahmen meines Bildes mit einer entsprechenden Dokumentation an alle diese Adressen geschickt. Darüber hinaus habe ich sämtliche bekannten Professoren und Velázquez-Experten angeschrieben, die ich herausfinden konnte. Raten Sie mal, wie das Echo darauf war?«
»Ich kann es mir denken É«
»Ein einziger Gelehrter hat geantwortet!«, empörte sich Livia. »Von den anderen habe ich nicht einmal meine Unterlagen zurückerhalten.«
»Das ist nicht verwunderlich. Viele dieser Universitätsgelehrten leben zwischen Bücherstapeln, überquellenden Papierkörben und Bergen von Fachartikeln. Es ist oft kein böser Wille, wenn in einem solchen Bermuda-Dreieck die Post auf Jahre verschwindet.«
»O ja! Das haben Sie treffend gesagt!«, pflichtete Livia bei. »Wenigstens ein Gelehrter, der Einzige, der sich gerührt hat, bemerkte etwas Positives in seinem Antwortschreiben.«
»Wer ist der Herr?«
»Er ist Dozent in Padua. Ich stehe seitdem in Kontakt mit ihm. Doch er betonte, dass er kein ausgewiesener Velázquez-Fachmann sei. Darum ist es kaum verwunderlich, dass er keine Diskussionen mit den Großen des Faches führen will. So trostlos sieht die Lage aus.«
Duncan spielte mit seinem Kugelschreiber, als stocherte in einem Essen herum. Plötzlich lächelte er entwaffnend. »Lassen Sie mich raten, wie Sie sich den Retter aus diesem Dschungel vorgestellt haben. Hätten Sie lieber einen reiferen Herrn mit weißer Haartolle und wuchtiger Brille hier vorgefunden?«
»Ha, ha, ha!«, lachte Livia. »Die älteren Herren sind die Schlimmsten, das weiß ich aus eigener Erfahrung.« Ihre Stimme wurde übergangslos ernst. »Aber Sie haben nicht ganz Unrecht. Wissen Sie, das Telefon vermittelt einfach einen anderen Eindruck, als wenn wir uns gegenübersitzen. Ihre Stimme hat eine tiefe Lage. Hinzu kam die Vorstellung von einem - sagen wir einmal - sehr akademischen Engländer.«
Diesmal schüttelte sich Duncan vor Lachen. »Verzeihung, Signora. Ein gravierender Fehler. Ich bin Schotte!«
»Oh! Was für eine Katastrophe. Ich habe Sie hoffentlich nicht in Ihrer nationalen Ehre gekränkt.«
»Ein Schotte verzeiht einer Italienerin fast alles.«
»Na, da habe ich ja Glück!«
»Gegen diesen Irrtum ist kein Kraut gewachsen, denn für die meisten Kontinentaleuropäer sind wir Schotten alle Engländer. Doch selbst in England kann einem das passieren. Ich habe da eine nette Sache erlebt É«
»Schießen Sie los.«
»Neulich, als ich mit dem Zug nach Edinburgh fuhr, riss ein Zugführer kurz vor der Grenze bei Berwick die Abteiltür auf und schmetterte uns stolz entgegen: This is my country! Dabei sah das Gelände, das draußen vorüberflog, nicht viel anders aus als dasjenige kurz zuvor. Ich fragte mich, warum er es tat. Später, als ich ihn fragte, sagte er, dass er mich für einen Engländer gehalten habe. Er wollte damit den Engländern sagen, dass ihm alles südlich des Tweed gestohlen bleiben kann.«
»Sehen Sie! Ich bin also nicht allein.«
»Ach, Engländer! Irgendjemand sagte einmal: Der Durchschnitts-Engländer ist zu schüchtern, ein Held zu sein, wenn er nicht dazu aufgefordert wird. Schotten dagegen sind immer Helden. Wir werden als Helden geboren und exportieren sie in alle Welt.«
»Nun denn! Dann werden wir die Sache heldenhaft angehen.«
»Wir werden sehen É Wie kamen Sie eigentlich darauf, sich an das Restoration Department der National Gallery zu wenden?«, fragte Duncan.
»Nachdem die italienischen Zeitungen über die Arbeit an der Restaurierung der ÝRokeby-VenusÜ berichteten, kam mir die Idee, dass mir vielleicht die Fachleute dort weiterhelfen könnten. Und so geriet ich an Sie.«
»Glückwunsch! Sie haben die feinste Adresse gezogen!«
»Und wenn ich das richtig sehe, habe ich jetzt zumindest jemanden gefunden, der die ungläubigen Doctores und Professores auf die richtige Spur setzen kann.«
»Verehrte Signora Vasari, genau das wird unser Ziel sein. Ich bin jetzt aber wirklich auf Ihr Material gespannt.«
»Dann wollen wir zur Tat schreiten«, erwiderte Livia. Sie öffnete ihre Aktentasche und entnahm ihr ein Bündel von Fotografien. »Ich lege Ihnen jetzt meine besten Aufnahmen auf den Tisch und bitte Sie, diese in Ruhe zu studieren. Und dann sagen Sie mir, was Sie denken.«
Die dunkle Gesamtaufnahme mit dem breiten Blitzlichtreflex, die offensichtlich die Vorlage von Delias Fotokopie gewesen war, war zwar eine unzureichende Wiedergabe unter einer teilweisen Ausblendung zentraler Partien, aber sie zeigte die Vorderansicht eines schlanken, vollendet lässig hingestreckten Frauenkörpers von hohem Reiz. Es war ungleich mehr erkennbar als auf Delias vergrautem Zinkoxid-Abzug. Duncan fielen insbesondere die herrlich modellierten Oberschenkel auf, die in helles Licht getaucht waren.
»Donnerwetter!«, entfuhr es ihm. Was für ein Rasseweib, schoss es ihm durch den Kopf. Die schöne Italienerin könnte selbst das Modell dafür gewesen sein. Schade, ihr eng anliegendes Kleid ließ keine Vergleichsbetrachtung zu. Aber wenn die Oberschenkel hielten, was die schmalen und doch wohlgeformten Waden versprachen, und die Schattierung der Büste É? Es war eine frappante Ähnlichkeit mit dem Modell des Bildes!
Er unterbrach die Kette der inneren Bilder und blickte auf. Livia lächelte, als ob sie seine Gedanken gelesen hätte.
Duncan leistete in Gedanken Delia, die ihm diesen Auftrag wie Sauerbier hatte aufdrängen müssen, nachträglich Abbitte, denn was er sah, enthüllte jedem weiteren Blick immer exzellentere Details. Sein Jagdinstinkt war erwacht, jenes intuitive Gefühl dafür, dass es sich lohnt, sich mit einer Sache zu beschäftigen, lange bevor die Meute der Konkurrenten die Witterung aufgenommen hat. Die Proportionen dieses durch und durch sinnlichen Leibes waren perfekt, und die schwingenden Konturlinien hatten nicht weniger Eleganz als die verwandter Partien der ÝRokeby-VenusÜ. Allerdings gab es ein paar störende Effekte, die grob den Linienfluss unterbrachen. Soweit dies im Schimmer des Lichtreflexes erkennbar war, bot die Vorderansicht keinen ganz schlüssigen Gesamteindruck, da sich über die linke Brust reichlich unmotiviert ein dunkles Tuch zog, das über den Bauch bis auf den Schoß herunterfiel. Das Bild schien insgesamt sehr dunkel zu sein, was höchstwahrscheinlich an der Verschmutzung lag. Es war stilistisch eindeutig noch siebzehntes Jahrhundert und stand den besten Frauenakten der römischen und bolognesischen Maler nahe. Aber wer immer es gemalt hatte, musste ein beachtlicher Meister gewesen sein.
»Von dem Gesamteindruck her tue ich mich schwer, Endgültiges zu sagen; es ist alles sehr dunkel. Aber was erkennbar ist, hat eine hervorragende Qualität«, versicherte Duncan. »Es muss von einem namentlich bekannten Maler stammen. Insofern lohnt es sich auf jeden Fall, das Original in Augenschein zu nehmen.«
Duncan sah aufmerksam die Detailaufnahmen durch, die in unterschiedlicher fotografischer Qualität Kopf, Hände und Füße zeigten. »Welch brillante Ausführung im Detail! Sehen Sie, wie schwungvoll und dabei treffsicher sogar die Zehen hingeworfen - oh, verzeihen Sie - mit lockerem Pinselschlag ausgeführt sind? Warum sind eigentlich die Aufnahmen so verschieden?«
»Diese Ausschnitte hat der Restaurator aufgenommen, der das Bild auf einen neuen Keilrahmen aufgezogen hat. Zuvor hing es einfach durch. Die Kanten der alten Spannkonstruktion und das stützende Kreuz in der Bildmitte waren durch die Leinwand durchgedrückt, die ganz verbeult war.«
»Der Kopf ist auch großartig: von vorn, aber nicht streng frontal É Wenn man die hässlichen Flecken am Hals und unter dem Auge entfernt, ist es ein ganz außerordentlich anmutiges Gesicht.« Duncans Interesse war endgültig geweckt. »Warum haben Sie diese Fotos nicht mit der Gesamtaufnahme nach London mitgeschickt? Man sieht hier sehr viel mehr, auch wenn es nur schwarz-weiße Wiedergaben sind.«
»Ich habe sie nur ausgeliehen, von dem Restaurator, der für meinen Mann die schlimmsten Schäden am Bild behoben hat. Es sind seine Dokumentationsaufnahmen, und zwar seine einzigen. Er möchte nicht, dass ich sie weitergebe.«
»Hat er noch die Negative?«
Livia zögerte: »Nein, die hat mein Mann an sich genommen. Er ist der Entdecker dieses Bildes, und er hat es mir übereignet. Aber er befindet sich im Ausland, ebenso wie das Bild«, sagte sie mit gepresster Stimme.
Duncan spürte wiederum die Last von ungelösten Problemen, die wohl den Hintergrund seines umständlichen Begutachtungsauftrags bilden mussten.(wird fortgesetzt)

Artikel vom 07.02.2005