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Die Flut spülte ihre Zukunft weg

Viele Kinder in Sri Lanka sind zu Waisen geworden - Hilfe dringend nötig

Von Can Merey
Galle (dpa). Der achtjährige Lakshita klammert sich an seine Schwester Lassita, die Zehnjährige lässt die Hand ihrer Großmutter keine Sekunde los. Die Geschwister halten sich am einzigen fest, was ihnen im Auffanglager in Batapola Halt gibt. Seit der Katastrophe sind sie Waisen - wie hunderte andere Kinder in Sri Lanka, genaue Zahlen gibt es nicht.

Viele wissen nicht, wie es weitergehen soll, die Flut hat sie zu Waisen gemacht, ihr Zuhause und ihre Zukunft weggespült. Die Kinder haben nichts mehr. Und sie brauchen dringend Hilfe. Die Jüngsten und Schwächsten hat die Katastrophe in Sri Lanka besonders schwer getroffen. Von den bislang bestätigten 30 000 Toten sind 12 500 Kinder.
Alleine im besonders schwer verwüsteten Bezirk Galle, wo auch Lakshita und Lassita herkommen, sind 40 Prozent der 130 000 Vertriebenen Minderjährige. Für die Kinder, die ihre Eltern verloren haben, bemühen sich Kinderärzte und die Regierung um Pflegeeltern. In Waisenheime - so lautet zumindest das Ziel - sollen sie nicht kommen.
Sujeewa Amarasena, Arzt und Leiter der Kinderabteilung im Krankenhaus in Karapitiya, versucht, die vielen versprengten Waisen im Bezirk Galle zu finden und Hilfe zu organisieren. Er telefoniert ständig, der Handy-Akku ist schon mittags fast leer. »Die Kinder sind stark traumatisiert«, sagt er. »Sie brauchen dringend psychologische Betreuung.« Manche der Waisen würden eineinhalb Wochen nach der Katastrophe noch immer kein Wort reden.
Lakshita flüstert, wenn er spricht. »Als ich die große Welle kommen sah, bekam ich Angst und bin auf einen Baum geklettert«, sagt er. Seine Mutter und sein sieben Jahre alter Bruder reagierten nicht so schnell. Nach der ersten Flutwelle hatten sich die drei auf die Suche nach Lassita gemacht, die im nahen Tempel betete. Dann kam die zweite Welle, sie war viel höher. Lakshita klammerte sich an den Baumstamm, er hat noch Abschürfungen am Bauch, die die Rinde einritzte. Seine Mutter und sein Bruder wurden weggespült. Es sind nicht die ersten Angehörigen, denen der Junge nachtrauern muss. Sein Vater ist schon vor langer Zeit gestorben.
»Sie haben noch gar nicht verstanden, was passiert ist«, sagt die Großmutter H.K. Kulawati. Sie und ihr Mann wollen die Kinder nun großziehen. »Wir werden unsere Enkel nie weggeben«, sagt die 55-Jährige - auch wenn sie nicht weiß, wie sie ihr Versprechen halten soll. Die Großeltern sind verzweifelt, in ihrem Dorf Daluwatumulla tötete die Flut jeden Dritten der einst 1800 Bewohner. Das Dorf ist fast völlig dem Erdboden gleichgemacht worden.
Großvater Medduwage Nandasena ist Fischer, doch das Boot, mit dem er raus aufs Meer fuhr, hat die Flut zerstört. Da er nun ohnehin keine Arbeit mehr hat, räumt Nandasena die Trümmer auf, vor seinem Haus liegt die zertrümmerte Einrichtung. Hilflos hält der 52-Jährige eine ausgehöhlte Kokosnuss mit einem Schlitz in der Schale in der Hand. Es war die Familien-Sparbüchse, irgendwer hat sie geplündert. Ein paar verschlammte Münzen hat Nandasena noch gefunden. Die 102 Rupien sind nun die ganzen Ersparnisse der fünfköpfigen Familie - es sind 73 Cent.
»Eines Tages will ich ein berühmter Kricketspieler sein«, sagt Lakshita. Seine Schwester möchte Tänzerin werden. Doch im Moment wissen die Geschwister nicht einmal, wann sie wieder nach Hause können - und es wird lange dauern, bis sie begreifen, dass ihre Mutter und ihr Bruder nie zurückkommen werden.
Eine rote Spielzeug-Lokomotive wurde in den Hinterhof gespült, sie gehörte dem toten Bruder. Aus Versehen tritt ein Helfer darauf, das Plastik zerbricht.

Artikel vom 06.01.2005