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Livia hatte Angelo währenddessen scharf beobachtet. Weder an seinen Augen, seiner Stimme, noch an seinem Gesichtsausdruck konnte sie erkennen, ob er die Unwahrheit sagte. Im Gegenteil, ihr Instinkt sagte ihr zunehmend, dass er die Wahrheit sagte oder zumindest von dem, was er sagte, überzeugt war. »Angelo! Wie sicher bist du dir mit diesem Gemälde? Ist es wirklich ein Original aus dem 17. Jahrhundert, oder kann es sein, dass ihr einer hervorragenden Fälschung aufgesessen seid?«
»Diese Frage mussten wir uns auch stellen. Aber wenn du erlebt hättest, wie Giuseppe mit Schweißperlen auf dem Gesicht und voller Aufregung die alte Dublierleinwand von der Rückseite abgelöst hat und wie nach und nach die grobe Webstruktur darunter zutage kam, dann hättest du dasselbe empfunden wie wir. Aber deswegen haben wir dennoch nichts dem Zufall überlassen. Giuseppe hat das freigelegte Gewebe der Originalleinwand genau nach seiner Bindung untersucht, fotografiert und sogar eine Wachsabformung gemacht, bevor er es neu aufgezogen hat. Und mit diesen Unterlagen war er bei seinen Restauratorenkollegen in der Galerie der Brera und hat Vergleiche angestellt. Die dortigen Gewebe des 17. Jahrhunderts sind nahezu identisch. Aber selbst die Dublierung war schon sehr alt, soweit man das am Tuch und an der eigentümlichen Konstruktion des Spannrahmens sehen konnte. Der Chefrestaurator der Brera, der nur ein Element vom Keilrahmen, einen Fetzen der Dublierungsleinwand und die handgeschmiedeten Nägel gesehen hat, war sicher, dass diese Übertragung Anfang des 19. Jahrhunderts geschehen sein muss. Und damals war Velázquez in Vergessenheit geraten. Das erste Buch über ihn erschien 1855.«
Angelo hielt einen Moment ein und überlegte. Er kreuzte die Arme auf der Brust und fügte hinzu: »Es kann auch jemandem so gegangen sein wie mir, der vielleicht von Velázquez nichts wusste, aber von dem Bild fasziniert war. Allerdings hat man vor zweihundert Jahren oder später so anders gemalt, dass wir auch eine Kopie stilistisch unterscheiden könnten. Und Giuseppe hätte eine andere Leinwand vorgefunden.«
Livia rutschte auf ihrem Sessel nach vorn und richtete sich auf. »Das ist ja richtig spannend É«
Angelo lächelte kurz. »Kannst du dir vorstellen, wie es uns ergangen ist? Einerseits mussten wir erschöpfende Informationen bekommen und an die besten Experten herankommen, und andererseits mussten wir erst absolute Sicherheit haben, bevor wir irgendwelche Neugier wecken wollten. Spekulation, Missgunst und Klatsch gehören so zur Kunstwelt wie eben hin und wieder eine Entdeckung. Aber die wird von den Haien der Branche einem Unbekannten nicht einfach zugestanden. Kein Argument durfte deshalb übersehen werden, denn sonst war das Bild ÝangebranntÜ, wie man im Kunsthandel dazu sagt.«
»Ich bin bereit zu glauben, dass es ein altes Bild von hoher Qualität ist. Aber ich muss dich an das erinnern, was du mir so oft gesagt hast. Dass nämlich viele alte Gemälde Werkstattbilder sind, die von Mitarbeitern gefertigt wurden. Und die hat Velázquez vielleicht auch gehabt. Oder?«
»Gut, Velázquez hatte Schüler und langjährige Mitarbeiter. Einer wurde sein Schwiegersohn und Nachfolger als Hofmaler, der ihn hervorragend kopiert hat, Juan Bautista del Mazo. Du siehst, ich habe gelesen, gelesen, gelesen! Die Schüler haben nach den Vorlagen des Meisters ähnlich gearbeitet. Auch ihre Leinwände und ihre Farben können identisch sein, aber sie können nie VelázquezÕ ausdrucksvolle, sichere Handschrift erreichen, vor allem nicht in den schwierigen Partien!«
»Und wie willst du beweisen, dass dein Bild von dieser einen Hand und keiner anderen stammt«, fragte Livia ungeduldig.
»Einige Kenner, zu denen ich Vertrauen habe, haben das Bild inzwischen gesehen. Sie haben auf ihre Weise genauso reagiert wie der Anwalt aus Bologna. Und sie haben mich in meinem Eindruck bestärkt. Es ist eine geniale Leistung!«
»Dann geh doch damit an die Öffentlichkeit.«
Angelo trat ans Fenster, um es gänzlich zu öffnen. Dabei sagte er gelassen: »Ein guter Vorschlag, Livia. Ich muss dich allerdings ein wenig enttäuschen. So einfach liegen die Dinge nicht. Am besten, ich hole die Unterlagen. Bevor ich sie hole, wollte ich dich aber fragen, ob du etwas zu trinken möchtest?«
»Ja, jetzt kann ich etwas vertragen. Bring mir bitte einen Campari-Soda.«
Während Angelo in der Küche die Getränke holte, versuchte Livia ihre Gedanken zu ordnen. Sie wünschte sich, sie wäre der römische Gott Janus und könnte wie er vor- und rückwärts blicken. Wahrheit oder Verführungskraft der Lüge, ging es ihr durch den Kopf. Die Wahrheit glich einem Himmelsweg; ihn allerdings zu ungeprüft zu betreten ließ sie zögern. Die Lüge dagegen glich einer Keule, die sie niederschlagen könnte. Sie fühlte sich daher hin- und hergerissen, gehörte doch die Lüge quasi zum Handgepäck ihres Mannes. Ja, in diesem Luftschloss könnte sie zwar leicht Zuflucht suchen, doch sie schwor sich schließlich darauf ein, erst zu urteilen, wenn alle Fakten auf dem Tisch lagen.
Ihre Nervosität steigerte sich, als Angelo wieder das Zimmer betrat.
Er stellte behutsam das Tablett ab. »Ich hole die Unterlagen.«
Wieder verging eine lange Minute, in der sie sich wie eine Nichtschwimmerin vorkam, die sich blind einem Element anvertrauen sollte, nur um zu sehen, ob es trägt É
Angelo kam aus seinem Arbeitszimmer. Zwei mit Papier prall gefüllte Hängeregistertaschen legte er auf dem großen Esstisch ab. »Am besten wird sein, wir setzen uns hierher.«
Livia folgte seinem Vorschlag. Als sie Platz genommen hatte, zog er zwei gleich große Fotografien aus dem Stapel. Bevor er sie Livia reichte, sagte er: »Ich finde, du solltest dir erst die beiden Fotos ansehen und dir selbst ein Urteil bilden.« Er legte beide Abbildungen nebeneinander. »Das ist die Londoner Venus und hier das Gemälde aus deinem Geburtsort Salerno.«
Livia nahm beide Fotos in die Hand. Die schlanken Proportionen und die zarte Eleganz der Silhouetten waren einfach zauberhaft. Sie konnte sich gut vorstellen, wie das glatte, lichtrosa Fleisch, im Kontrast zu dem Graublau der Tücher, auf der die Damen ruhten, die sinnliche Anziehungskraft bei männlichen Betrachtern steigerte. Livia verglich die Details. Die Bettstatt und die Chambre séparée waren bei beiden Gemälden eindeutig dieselben. Die Malweise war identisch, soweit die Abbildungen dies erkennen ließen. Es gab Dutzende von hinten und von vorn gesehener, liegender weiblicher Akte, doch Livia war im gleichen Moment ebenso davon überzeugt, dass die beiden Gemälde aus einer Hand geboren worden waren und einer einzigartigen Sinnenfreude Ausdruck verliehen.
»Nun?«, fragte Angelo erwartungsvoll, als Livia die Fotos wieder auf den Tisch legte.
Sie deutete auf die Venus aus Salerno. »Interessant. Ich muss gestehen: Es ist für mich keine Frage, welche Hand diese Kunstwerke geschaffen hat. Ich überlege, wer könnte dieser begabte Maler gewesen sein, wenn nicht der ein und derselbe Velázquez?«
Angelo schlug sanft mit beiden Handflächen auf die Tischplatte. »Ich wusste es. Die wenigen Personen, die sich damit beschäftigt haben, kommen zu dem gleichen Schluss.«
»Willst du mir verraten, wo sich das Gemälde gerade befindet?«
Angelo nahm einen roten Umschlag aus dem Register. »Sieh! Es befindet sich im Zolllager von Zürich. Hier ist die Hinterlegungsurkunde.« Er zog ein dicht bedrucktes Papier hervor, auf dem der Firmenname TRANSGLOBAL zu erkennen war.
»Warum in Zürich?« fragte Livia, obwohl sie sich die Antwort bereits denken konnte.
»Wegen der Ausfuhrbestimmungen. Schon nach der Entdeckung der Signatur durch Giuseppe hätte ich es nach italienischem Recht nicht außer Landes bringen dürfen. Sollte es eines Tages als ein Gemälde von Velázquez anerkannt werden, dann sollte dies am besten in London geschehen. Der Transport von Zürich nach London dürfte kein Problem mehr darstellen. Das Problem wird sein, einen Experten zu finden, der das Bild begutachten und die Echtheit international durchsetzen kann.«
Livia nahm einen langen Schluck aus ihrem Glas und starrte eine Weile stumm die Wand an. »Wieso?«
»Die Experten werden sich schwer tun, unser Aktbild als ein Werk von Velázquez anzuerkennen.«
»Warum so pessimistisch?«
»Weil ich ein Niemand bin. Nicht nur die Experten, sondern die bedeutendsten Museen dieser Welt werden sich fragen, warum gerade ich einen Velázquez entdeckt haben soll und nicht die berühmten Professoren. Auch wenn die vorliegenden Beweise fast schon unwiderlegbar für die Echtheit sprechen, wird ein Streit anheben, der lange dauern und Käufer verunsichern wird.«
»Und was schlägst du vor?«
»Es gibt viele Möglichkeiten. Eine der sichersten wäre die, einen angesehenen Experten zu gewinnen oder gar eine Institution, die sich davon überzeugen lässt, dass es ein Velázquez ist.«
»Was meinst du mit Institution?«
»Warum nicht die National Gallery in London? Die Leute dort kennen sicher jeden Quadratzentimeter ihrer ÝRokeby-VenusÜ. Dort sitzt sicher ein Experte für spanische Malerei und hat alle nötigen weiteren Kontakte. Man muss einen persönlichen Zugang zu diesen Leuten finden. Das kannst du besser.«
Wieder trat eine längere Pause ein. Livia beugte sich nach vorn, sodass sich ihre Gesichter sehr nah waren. »Sag die Wahrheit! Warum willst du mir das Gemälde überlassen?« (wird fortgesetzt)

Artikel vom 27.01.2005