24.12.2004 Artikelansicht
Ausschnitt Zeitungsausschnitt
Drucken Drucken

 

Zum Weihnachtsfest

Von Pfarrer Hans-Jürgen Feldmann


In diesen Tagen hören wir auch wieder die Vernünftigen, die Sachlichen, die Kritiker, wie sie die Menschen fragen: »Seid ihr eigentlich verrückt geworden? Das ganze Jahr über sucht ihr euren Vorteil, macht Geschäfte auch auf Kosten anderer, führt Kriege, streitet euch in den Familien, vernachlässigt die Kinder. Doch zu Weihnachten ist auf einmal alles in Ordnung, dann bricht Frieden aus, dann teilt ihr miteinander, dann habt ihr Zeit füreinander, hört euren Kindern zu, lacht und spielt mit ihnen, und spätestens am 2. Januar ist alles wieder wie vorher, rund 360 Tage lang, bis wieder Weihnachten wird.«
Solche Kritik ist nicht ganz von der Hand zu weisen. Aber trifft sie deswegen auch schon den Kern? Dringt sie tief genug, oder kratzt sie nur an der Oberfläche? Zu Weihnachten im Grunde alles nur Schein, Verstellung, Heuchelei? Wirklich?
»Es ist genau umgekehrt«, schreibt Peter Karner, »unser wahres Gesicht zeigen wir in diesen Weihnachtstagen - und dieses Gesicht ist gütig und verständnisvoll. Dieses Gesicht zeigt, dass Gott selbst uns entworfen und konstruiert hat - deshalb steht ja auch in der Bibel: Der Mensch ist das Ebenbild Gottes! In den vielen Tagen des Jahres aber zeigen wir oft genug unser falsches Gesicht, da neigen eben viele Menschen dazu so zu tun, als hätte sie der Teufel im Rausch erzeugt! Darum freuen wir uns so sehr auf Weihnachten, weil wir dann endlich wieder wir selber sein können, und so unsere Entfremdung und Uneigentlichkeit überwinden» (beide Zitate aus Peter Karner: Das Lächeln, das aus der Krippe kam, 2. Aufl. 2000, S. 64).
Manche können das nicht glauben, weil sie sich schon zu sehr an das falsche Gesicht gewöhnt haben, bei anderen und auch bei sich selbst. Aber was macht den Menschen eigentlich aus? Sein aufrechter Gang, seine Sprache, sein Verstand, sein Erfindungsreichtum?
Gewiss, das sind wichtige Begabungen und großartige Eigenschaften. Aber zum Menschen im vollen Sinne des Wortes machen sie uns noch nicht. Denn wir können sie ja auch missbrauchen, damit Böses anrichten, Unheil stiften, Gemeinschaften zerstören, Atmosphäre vergiften, dem Tode dienen.
Zu Menschen im eigentlichen Sinne werden wir erst dadurch, dass wir lieben und Liebe empfangen können. Können, nicht müssen! Denn wir können immer auch ganz anders. Wir können auch unser falsches Gesicht zeigen: wir können auch glauben, dass wir es nicht wert sind, geliebt zu werden.
Aber eines steht zum Glück - zu unserem Glück - nicht in unsere Macht: Wir können Gott nicht weismachen, dass wir für ihn nicht liebenswert sind. Das kann keiner, kein einziger. Niemand bildet da eine Ausnahme. »Es geht kein Mensch über diesen Erdboden, den Gott nicht liebt«, hat Friedrich von Bodelschwingh einmal gesagt.
Diese Liebe ist erschienen in Jesus Christus, dessen Geburt wir heute feiern. In ihm kommt Gott selber zu uns und zeigt uns sein Gesicht, lässt uns wissen, wie er uns sieht und wie er zu uns steht. Denn Gott wollte genau so werden wie wir, nämlich ein Mensch - zwar nicht wie ein Mensch, der sein falsches Gesicht aufsetzt, sondern wie wir, wenn wir unser wahres Antlitz tragen, das der Liebe und der Güte.
Zu Weihnachten geben wir Gott in der Tiefe der Seele und von ganzem Herzen recht: Was Menschsein wesentlich ausmacht, ist Liebe und Güte. Was sich davor verstecken muss, mag im Augenblick cleverer erscheinende und kurzlebige Vorteile versprechen. Auf die Dauer aber richtet es Schaden an -ĂŠnicht nur bei anderen. Wir verspielen dabei ein Stück unserer Würde und leben unterhalb dessen, was wir sein könnten.
Im Geheimnis der Menschwerdung Gottes aber geht es auch um die Würde des Menschen: Gott aber spricht jedem einzelnen einen unendlicher und unverlierbaren Wert zu, und zwar unabhängig vom Urteil anderer und auch vom eigenen Urteil.

Artikel vom 24.12.2004