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Leitartikel
Großmannsmachtsucht 2004

Oft geht's nur um Millimeter


Von Rolf Dressler
Schaut man in Geschichtsbücher oder lässt historische Filmszenen auf sich wirken, scheint bisweilen die Zeit stehengeblieben zu sein. Eine bemerkenswerte Erfahrung, weil gerade wir Heutigen uns doch ansonsten - im allgemeinen wie im besonderen - als putzmodern und dynamisch zukunftsorientiert fühlen oder jedenfalls so empfinden sollen.
Da sind zum Beispiel die Mächtigen von einst und jetzt. Rein äußerlich betrachtet unterscheiden sich die Regierenden und anderswie politisch maßgeblichen Herrschaften oftmals kaum nennenswert von den Altvorderen längst versunken geglaubter europäischer und überseeischer Zeiten.
Großbritanniens Weltkrieg-2-Premier Winston Churchill etwa trug ganz ähnliche Anzüge aus gepflegt teurem Tuch wie Deutschlands aktueller Außenamtschef Joseph »Joschka« Fischer. Letzterer, mit Verlaub, gewann nach seinen mehrjährigen Ausdauer-»Läufen zu sich selbst« (Fischer über Fischer) inzwischen die stattliche Statur zurück, die ihn im Körpermaß sogar Churchill näher bringt. Die Ähnlichkeit verblüfft besonders, wenn unser grüner Vizekanzler, gewandet wie weiland der legendäre Mann mit der Zigarre in Diensten seiner Majestät, hurtig auf diplomatischem Parkett unterwegs ist.
Ungleich mehr allerdings fällt ins Gewicht, wie erstaunlich verwandt die Grundauffassungen und das Gebaren früherer und heutiger Politiker einander sind.
Gewiss, in der spöttischen Verurteilung jedweder nassforschen »Kanonenboot-Politik« im Stile Kaiser Wilhelms und der französischen, britischen, holländischen und spanischen Groß-Kolonialherren von Anno dazumal sind sich hier in Europa alle Fischers, Schröders, Blairs, Chiracs der Welt von 2004/2005 einig. Doch manche Zweifel keimen:
- Wie ernst ist es ihnen, über alle vollmundigen Beteuerungen hinaus, in jedem konkreten Krisenfall wirklich mit der Legitimationsinstanz UNO?
- Treiben nicht auch die Mächtigen von heute wieder ein janusköpfiges Spiel mit Samthandschuhen, eine Art neuen Kolonialismus auf die feine Nadelstreifen-Art?
George W. Bush schelten und rügen sie, weil er übelste Diktaturen wie die steinzeit-kommunistische in Nordkorea oder die extrem-islamischen Mullah- und Taliban-Regime im Iran und Afghanistan zutreffend als »Reiche des Bösen« brandmarkt.
Ist es aber in Wahrheit nicht neue Großmanns(macht)sucht, wenn ausgerechnet auch heutige deutsche Politiker dem Volk einreden, gerade Deutschland müsse fortan am Hindukusch verteidigt werden - morgen im Sudan, im Kongo und vielleicht übermorgen schon an der Ostgrenze der Tür- kei gegen die Atommacht Iran?
Damit nicht genug: Der zu fast hundert Prozent islamischen Türkei, dem Irak und anderen will man gönnerhaft großsprecherisch »die Demokratie bringen«.
Eine uralte, offenbar jedoch quicklebendige Menschheitserfahrung lehrt: Von der Anmaßung zur Maßlosigkeit sind es immer nur wenige Millimeter.

Artikel vom 18.12.2004