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Dann hätte er die Dame gleich in der Frontalansicht malen lassen können. Aber auch die Röntgenbilder, die Sie bei unseren Unterlagen gesehen haben, zeigen nichts Derartiges.«
»Also sah man eindeutig ein Gesicht?«
»Eindeutig«, meinte Ruhemann, »aber es kann nicht das langweilige, klobige und viel zu große Gesicht gewesen sein, das jetzt zu sehen ist. Es muss klarer und eindrucksvoller gewesen sein. Wenn es so etwas wie die Vergänglichkeit der Schönheit zeigen soll, muss es wenigstens ein bisschen Schönheit zeigen, nicht nur ein hässliches Schummerbild.«
»Ich möchte wirklich wissen, wen das Spiegelbild zeigt«, warf Duncan ein. »In dem verschmutzten Zustand kann niemand erkennen, ob es eine Schönheit ist.«
»Ich nehme Ihren Auftrag gern an«, sagte Ruhemann freundlich zwinkernd. »Ich wüsste auch gern, wie das Venusprofil und die Dame im Spiegel zusammenpassen. Ich werde versuchen zu klären, ob Spuren von Veränderungen oder absichtlicher Verwischung der Züge auf der Spiegelfläche erkennbar sind.«
Duncan stand auf. »Ich bin sehr gespannt, was Sie finden werden.«

Helmut Ruhemann saß in der Morgenhelle in seinem Atelier und war vertieft in die Betrachtung winziger Farbschollen inmitten der riesigen Oberfläche des Gemäldes.
Klack! Ein Schlag gegen die hohe Fensterscheibe ließ ihn hochfahren. Er schob die Lupenbrille hoch und rieb sich die Augen. Schon wieder so ein ahnungsloser Vogel! Je mehr von dem Bild herauskommt, sagte der alte Herr lächelnd zu sich selbst, desto häufiger passiert es - trotz dieser dunklen Aufkleber. Er war glücklich über den täglichen Fortschritt bei der Abdeckung der alten Retuschen und Verschmutzungen, die sich über der Malschicht der ÝRokeby-VenusÜ befanden. Doch nun hatte er eine besondere Hürde zu nehmen, die seine volle Konzentration forderte.
Er ging an sein Bücherregal und suchte nach einer schmalen Broschüre über Kitte und Retuschen. Er hatte mehrere Notizzettel dort eingelegt, die er einen nach dem anderen durchsah. In Erinnerung an den Aufprall des Vogels, der ihn vorher aufgeschreckt hatte, trat er einen Schritt zum Atelierfenster zurück und sah nach draußen. Vorsichtig ließ er die Jalousie anschließend ein Stück weit herunter und klappte die Lamellen an.
Dann nahm er wieder auf seinem Arbeitsstuhl Platz und hob mehrere großformatige Dokumentationsfotos von dem Schemel neben sich hoch, um sie auf seinen Schoß zu legen. Prüfend blickte er zwischen diesen und dem Gemälde auf der Staffelei hin und her. Er musste einen empfindlichen Eingriff vornehmen, der die grausame Entstellung beseitigte. Acht lange Stichwunden hatten den makellosen Körper der Venus zerteilt. Bei der damaligen Restaurierung, vor fünfzig Jahren, waren die Zerstörungen so weit kaschiert worden, dass bei oberflächlicher Betrachtung die Schnittspuren nicht sofort zu bemerken waren. Eine neue Trägerleinwand war der durchschnittenen unterlegt und die Fehlstellen waren ausgekittet worden. Doch je reiner inzwischen die ursprüngliche Malfarbe durch Ruhemanns Firnisabnahme hervorgetreten war, umso dunkler hoben sich nun die Farbergänzungen ab, die der damalige Restaurator wenige Wochen nach der Beschädigung in einer ziemlich breiten Bahn aufgesetzt hatte.
Die braungraue Farbe war steinhart geworden. Helmut Ruhemann öffnete den Stöpsel des Glases mit der giftigen Dimethyl-Formaldehyd-Mischung und tränkte mehrfach seine Wattestäbchen mit dieser aggressiven chemischen Tinktur. Die öligen Bindemittel zogen erwartungsgemäß schließlich den Kürzeren. Der dicke Schorf wich nach und nach und gab den Blick auf die zuvor vorgenommenen Kittungen frei. Und diese waren zum Glück viel schmaler als die darüber gelegten Retuschen.
Nach zwei Stunden dieser anstrengenden Geduldsarbeit stand Ruhemann auf und öffnete die Fenster, um kräftig durchzuatmen. Er war froh, dass sich das Problem als grundsätzlich lösbar erwiesen hatte. Und er war erleichtert, mehr originale Substanz vorgefunden zu haben, als vorher oberflächlich sichtbar gewesen war.
Der arme Restaurator von einst! Jener hatte nur den Auftrag gehabt, die hellen Schnittkanten optisch an die umgebende Farbe anzugleichen und den Gesamteindruck inklusive Patina oder ÝGalerietonÜ irgendwie hinzumogeln. Er durfte weder forschen noch ausgraben, dachte sein glücklicherer Nachfahre, ja, er durfte nicht einmal in klaren Farben malen, sondern nur Schmutz in Schmutz kleistern! Wie wenig wussten davon die Betrachter! Manch einem erging es so wie den etikettgläubigen Weintrinkern, die manch deutlichen ÝKorkenÜ noch für eine charaktervolle Geschmacksnuance hielten. Ein gutgläubiger Bilderenthusiast hatte das neulich so ausgedrückt: »Der Galerieton ist etwas Vornehmes und ein Zeichen des Meisterwerks. Er ist wie die Farbe eines gut gelagerten alten Weins É Das stechende Purpurrot ist in ein harmonisches Braunrot übergegangen.«
Helmut Ruhemann schaute bewundernd auf die freigelegte Bildfläche. Jetzt leuchtete wieder ein prächtiges Purpurrot als Hintergrund der lichten Körperfarbe von VelázquezÕ Venus! Und sogar ein ganzer Venus-Zeh war unter den alten Farbretuschen wieder aufgetaucht. Wie gut, dass dieser alte Wein samt Bodensatz ausgekippt war.
Von Tag zu Tag und von Stunde zu Stunde, die er an dem Bild arbeitete, hatte sich bei ihm das Urteil verfestigt, ein außerordentlich seltenes Gut aus dem Meer der geschichtlichen Überlieferung an Land gezogen zu haben. Die Malerei war in beeindruckend gutem Zustand; hatte vielleicht in diesem Fall die lange unberührte Schmutzschicht auch etwas dazu beigetragen? Aber mehr noch beschäftigte ihn die Verbindung von Flüchtigkeit und Perfektion, von einem routinierten Direktauftrag wenig gemischter Farben auf einem nur angetönten Hintergrund, der nicht so penetrant durchschlug wie in den frühen Werken des Malers. Die Komposition des Aktmodells war nicht akademisch konstruiert, sondern von einer so überzeugenden Nähe und Duftigkeit skizzenhafter Modellierung, wie sie nur in wenigen anderen Werken der früheren Jahrhunderte zu finden war. Es musste etwas anderes als die gewöhnliche Schrittfolge der Ausführung - von Vorstudien und Kompositionsentwurf über Umriss-Übertragung, Vorskizze, Farbanlage und Ausmodellierung bis zu den letzten Akzentuierungen - abgelaufen sein. Das Bild war in vielen Einzelheiten nicht einmal fertig gemalt. Das konnte man nun in aller Deutlichkeit erkennen.
Die Faszination dieses Werks ergab sich gerade aus der Kenntnis anderer Frauenbilder. Eine so andeutungsweise, mit unverriebenen Pinselzügen hingeworfene und doch so glaubhafte und individuelle Frauenfigur hatte bis dahin in der Geschichte der Kunst kein anderer Maler vergleichbar zustande gebracht. Es war eine paradiesische Eva, die sich in das Blickfeld eines irdischen Malers verlaufen hatte, nicht irgendeine Frau, die sich ungewohnt entkleidet zeigen musste. Es war auch kein gekauftes Modell, dessen Proportionen vom Maler verjüngt, gestreckt und zurechtgebogen werden mussten wie jene Freudenhausfiguren mit geschwollenen Schenkeln und Druckstellen von den Strumpfbändern, mit welchen der berühmte Rembrandt und die meisten anderen Maler in den gemeinschaftlichen Aktklassen vorlieb nehmen mussten.
Und dabei hatten diese Niederländer noch Glück gehabt! Keine ehrbare Frau gab sich als Aktmodell her. Und dass kein Luder in die Werkstatt kam, dafür sorgte die Meisterin. So hatten die meisten Maler für die Darstellung des weiblichen Körpers anatomische Puppen und Nachzeichnungen nach antiken Figuren benutzt, und das sah man den Ergebnissen auch an: ein Zusammensetzspiel aus vielen Einzelstudien eigener und fremder Hand nach Gemälden, Skulpturen und Stichen, frei nach der Lehre des antiken Gelehrten Vitruv.
Kaum jemand vor wie nach Velázquez war die Übersetzung der Körperdarstellung in eine so erfreuliche, in sich harmonisches Farbkomposition geglückt. Wenn sich überhaupt ein Vergleich anbot, dann am ehesten noch bei den Malern des neunzehnten Jahrhunderts. Doch was sich hier aufzutun schien, war farblich noch eine ganze Stufe reicher und raffinierter als der duftigste Akt von Gustave Courbet oder Edouard Manet.
Ruhemann drehte langsam die schwere Staffelei samt dem breiten Bild darauf herum und schob sie gegen die dunkle seitliche Wand. Er hatte jetzt alle Hinzufügungen abgenommen, mit der Ausnahme einiger Retuschen über dem Hintergrund des roten Vorhangs, der bei früheren Reinigungen wohl zu dünn geworden war. Das mit äußerster Präzision unternommene Ausgrabungswerk war beendet. Dies war ein großer Moment, dem er lange entgegengesehen hatte. Er setzte sich auf den Atelierhocker und besah nach und nach nochmals alle einzelnen Bildpartien. Er vergaß die gesamte Werkstatt um sich herum mit ihren anderen Bildern, abgestellten Rahmen, Büchern und Instrumenten. Hier lag sie in Augenhöhe und lebensgroß wirklich vor ihm, die abgewandte Schöne. Nichts, aber wirklich gar nichts an ihr verriet die mehr als dreihundert Jahre, die seit der Fixierung ihres anmutigen Anblicks verstrichen waren. Er atmete ganz leise und stand dann plötzlich auf, um ein paar Schritte Abstand zu gewinnen.
Angesichts der bleichen und teilweise stumpftonigen Partien von Gesichtern und Händen in dem frühen Velázquez-Bild in Edinburgh, das Duncan kopieren sollte, hatte dieser ihn gefragt, auf welche Weise die ursprünglich gewiss lebhafteren Farben verloren gegangen seien. (wird fortgesetzt)

Artikel vom 21.12.2004