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Familien stehen vor dem Nichts

Nach Feuer sind Anstellung und Wohnung die sehnlichsten Wünsche

Von Ulrich Hohenhoff
(Text und Fotos)
Brackwede (WB). Sie haben alles verloren, brauchen dringend Hilfe: die türkischen Familien, die bei dem Brand in einem Vierfamilienhaus an der Warsteiner Straße in Brackwede am vergangenen Wochenende (das WB berichtete) ihr Obdach verloren haben, stehen buchstäblich vor dem Nichts. Was nicht vom Feuer zerstört wurde, ist durch Rauch, Ruß und Löschwasser unbrauchbar geworden.

»Dabei sind wir froh und dankbar, dass wir unser Leben retten konnten. Doch jetzt müssen wir ganz von vorn anfangen«, sagt Zeyneb Gül (25), die in der verzweifelten Situation ihren drei Wochen alten Säugling aus dem Fenster des ersten Obergeschosses geworfen hatte.
Dank aufmerksamer Nachbarn, die unter dem Fenster eine Decke stramm aufgespannt hatten, überlebte das kleine Mädchen unverletzt. Auch die Mutter, die mit ihrem Ehemann Levent (27) und einem zufällig anwesenden Bekannten in die Tiefe sprangen, kamen unverletzt davon. »Die dramatischen Minuten können wir nie vergessen«, sagt Levent Gül. »Wir hörten von unten jemanden schreien, »es brennt, es brennt«, wollten mit der kleine Eda durchs Treppenhaus ins Freie«. Doch schwarzer, undurchsichtiger Qualm, versperrte den Fluchtweg. »Wir hörten zwei Explosionen, haben die Flurtür sofort wieder geschlossen. Uns blieb keine Wahl. Wir mussten springen«.
Seit fast zehn Jahren lebt Zeyneb Gül in Deutschland, ihr Mann, studierter Geschichtslehrer, kam vor eineinhalb Jahren nach Brackwede, der Liebe wegen. Die Zwei-Zimmer-Wohnung hatten die beiden erst vor kurzem renoviert, neue Möbel gekauft.
Jetzt ist alles kaputt und unbrauchbar. »Wir haben nur noch das, was wir auf dem Leib tragen«, sagen die beiden, die mit dem Baby zunächst bei Verwandten untergekommen sind. Die Gemeinnützige Baugenossenschaft hat der Familie zwar eine neue Wohnung zugewiesen, doch die muss erst einmal renoviert werden. »Und für Farbe und Teppichboden haben wir kein Geld. Für Einrichtung und Kleidungsstücke auch nicht«.
Versichert war die Familie nicht. Zeyneb Gül ist in Mutterschaftsurlaub, ihr Ehemann hat keinen Job. Und das ist dessen größter Weihnachtswunsch. »Ich mache alles, egal, was es ist. Hauptsache, ich verdiene selbst Geld, damit wir von vorn alles aufbauen können«, sagt der arbeitslose Geschichtslehrer, der aus der Wohnung nur einige Papiere retten konnte.
Noch keine neue Bleibe haben Gülbahar Yesilyurt (29) und ihre vier Jungen Niyazi (9), Bilal (7), Oguzhan (5) und Mertcan (2). In deren Wohnung war vermutlich der Brand ausgebrochen. Nur dem wagemutigen und unbekümmerten Einsatz von Recep Turhahn (31), der durch ein eingeschlagenes Fenster in die Wohnung eingedrungen war, hat der jüngste Spross der Familie sein Leben zu verdanken.
Die Mutter, die bei Ausbruch des Feuers krank im Bett lag, hatte zunächst die größeren Kinder ins Freie gebracht. »Dann wollte ich zurück und den Kleinen, der in seinem Bettchen schlief, holen. Durch Qualm und Rauch war das unmöglich, der Rückweg war abgeschnitten«, erinnert sich die immer noch unter Schock stehende Frau an die dramatischen Minuten am Brandort.
»Die Wohnung sieht jetzt aus wie ein Rohbau. Bis auf den Putz herunter ist alles verbrannt«. Auch die Erinnerungen an die Vergangenheit sind weg. Fotos, Andenken, Papiere und das Hochzeitskleid fielen den Flammen zum Opfer. Seit acht Jahren wohnte die Familie in der Wohnung an der Warsteiner Straße. Gülbahar Yesilyurt wurde in Brackwede geboren, ist hier aufgewachsen. Provisorisch ist die Familie bei Oma Muteber Sözen (50) am Südring untergekommen. »Doch das ist kein Zustand, die Wohnung ist zu klein für so viele Personen«.
Zwar hat die Gemeinnützige Baugenossenschaft Brackwede (GBB) der Familie eine Wohnung anbieten können, doch die liegt im Kreuzungsbereich Südring/Windelsbleicher Straße, steht erst im März zur Verfügung. »Meine Kinder sind hier aufgewachsen, besuchen die Kita oder die Schule, haben ihr soziales Umfeld. Wir wünschen uns eine 3-4 Zimmer-Wohnung in einer ruhigeren Gegend«, meint die Mutter der vier Kinder. »Wir sind dankbar, dass wir unser Leben retten konnten. Jetzt brauchen wir erst einmal das Notwendigste, ein Zuhause, Möbel und Anziehsachen«, formuliert die Frau ihren Weihnachtswunsch.
Bei dem Brand alles verloren hat auch der im Obergeschoss wohnende Seher K. (32). Der Kurierfahrer war am Brandtag beruflich unterwegs, hatte die Wohnung gerade renoviert. »Jetzt stehe ich vor dem Nichts«. Dabei wollte der junge Mann in wenigen Wochen heiraten. Seine künftige Frau kommt in der nächsten Woche aus der Türkei nach Brackwede. Sie weiß noch nichts vom Brand.
l Zur Unterstützung der Brandopfer ist ein Spendenkonto eingerichtet: Sparkasse Bielefeld, BLZ 48050161, Konto-Nummer 5106133, Stichwort: Brandhilfe

Artikel vom 09.12.2004