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Das Wort zum Sonntag

Von Pfarrer Hans-Jürgen Feldmann


Diese Tage sind voll von Erinnerung an Martin Luther. Am vorigen Sonntag wurde der Reformationstag begangen. Hoffentlich auch in den evangelischen Gemeinden, die - ob zu gleichgültig oder zu bequem geworden - diesen Anlass einfach ausfallen lassen oder an einen zentralen Gottesdienst delegieren, wenn der 31. Oktober auf einen Werktag fällt! In der kommenden Woche, am 10. November, ist Luthers Geburtstag. 1483 wurde er in Eisleben geboren; am Tag darauf auf den Namen Martin getauft - nach dem heiligen Martin von Tours, dessen am 11. November gedacht wird.
Wie wenig darüber oft noch gewußt wird, ist allerdings erschreckend. Auf die Frage an eine Konfirmandengruppe, was ihnen zu Luther einfalle, kam die Äußerung, er habe einmal seinen Mantel durchgeschnitten und eine Hälfte davon einem frierenden Bettler gegeben. Hat er aber nicht; es war Martin von Tours. Ist Luther passé? Kann man ihn einfach vergessen? Braucht man sich nicht mehr darum zu scheren, daß er wie kein anderer die Neuzeit geprägt und beeinflusst hat - bis tief hinein in den gesellschaftlichen Bereich?
Die reformatorische Botschaft hat sowohl die Freiheit des Einzelnen begründet - und zwar geistlich - als auch der modernen Demokratie überhaupt erst den Boden bereitet. Sie hat den weltlichen Berufen zu gleichem Rang verholfen wie den geistlichen und sie damit aus der kirchlichen Bevormundung gelöst. Ebenso hat sie dem Staat und der Kirche unterschiedliche Aufgaben zugewiesen, die man nicht verwechseln und vermischen soll. Schließlich, um nur das noch zu nennen, hat Luther den Wert einer guten Bildung für alle erkannt und die Ratsherren dazu aufgefordert, Schulen zu gründen. Was hätte er wohl dazu gesagt, wie Deutschland bei der PISA-Studie abgeschnitten hat?
In seinen Schriften und Tischreden, gut hundert dicken Wälzern, findet sich aber auch manch trefflicher und treffender Einzelausspruch, über den man schmunzeln oder lange meditieren kann. Manchmal jedoch stolpert man zunächst wohl darüber. Dafür ein Beispiel: »Ich hab' kein besser Hausmittel denn den Zorn«, schreibt Luther einmal. »Wenn ich gut schreiben, beten, predigen soll, muss ich zornig sein, da erfrischt sich mein ganz Geblüt, mein Verstand wird scharf, und alle Anfechtungen weichen.«
Hat er das wirklich gesagt? Kann er es so gemeint haben? Ein Lob des Zorns, gepriesen als Hausmittel, als Hilfe zum Predigen, zum Beten gar? Ist der Zorn nicht eine Regung, der man sich besser enthält, vor der man sich zumindest in Acht nehmen sollte? Als Meister der deutschen Sprache indessen wusste Luther, was er schrieb, und das war immer auch genauso gemeint.
Auch in diesem Fall ist die Wortwahl keineswegs zufällig. Mit Bedacht gebraucht Luther den Ausdruck »Zorn« und nicht etwa »Wut«. Man spricht etwa von »blinder Wut« oder einem »blindwütigen Menschen«. Darin kommt zum Ausdruck, dass die Wut die Sinne und den Geist benebelt. In seiner Wut nimmt einer die Wirklichkeit nicht mehr richtig wahr. Er ist blind für Zusammenhänge und kann sich nur noch auf das konzentrieren, worauf er wütend ist.
Zorn dagegen macht scharfsichtig und scharfsinnig. »Die Wut ist niedrig und gemein«, schreibt Otto Friedrich Bollnow, »aber der Zorn ist ein edles und keineswegs verächtliches Gefühl, dessen sich der Mensch nicht zu schämen braucht. Der Zorn hat etwas Großes« (O.F. Bollnow: Einfache Sittlichkeit, 3. Aufl. 1962, S. 106). So spricht man durchaus auch von einem »heiligen Zorn«. Er ist leidenschaftlich, unbestechlich, und ihn zeichnet eine mutige Haltung aus. »Der Mensch«, sagt Bollnow, »verliert im Zorn auch nie so sehr die Gewalt über sich selbst wie in der Wut.«
Darüber, dass die Sache der Reformation heute so sehr an den Rand gedrängt ist, wäre Luther zwar nicht in Wut geraten, aber es hätte seinen Zorn erregt. Denn es gibt zwei Feinde der Religion. Der eine ist der Fanatismus, der vor Gewalt gegen Andersdenkende, auch gegen Andersglaubende nicht zurückschreckt. Dafür hat es in der Kirchengeschichte schlimme Beispiele gegeben, und die gibt es heute vor allem auf dem Boden des Islam. Der andere Feind ist die Gleichgültigkeit, die immer mit Unwissenheit einhergeht.

Artikel vom 06.11.2004